Wer soll jetzt dein Herzblatt sein?

Bundestagswahl Schwarz-Grün oder Grün-Rot-Rot – noch ist völlig unklar, wohin Deutschland steuert
Ausgabe 08/2020
Dank des „Ramelow-Effekts“ wieder im Bereich des Denkbaren
Dank des „Ramelow-Effekts“ wieder im Bereich des Denkbaren

Foto: Jacob Schröter/Imago

Ginge es nach dem österreichischen Kanzler Sebastian Kurz, wäre die Sache in Deutschland schon gelaufen: Er wettet offen auf Schwarz-Grün. Wobei da auch ein bisschen Optimismus mitschwingt, denn bis zum Ende der Legislaturperiode, sollte sie denn ausgesessen werden, ist noch ein weiter Weg, und unterwegs könnte es zwischen den Farben auch noch zum Hoheitstausch kommen. Das macht, weil mit Merkel (noch) gerechnet werden muss, die anstehende Kandidatenkür nicht einfacher, die Farbenspiele aber spannender.

Denn mit den neueren, nach dem Thüringen-Debakel erhobenen Umfragen treiben allerlei Blüten gen Himmel. Im Gegensatz zu den schwierigen Verhältnissen dort, wären im Bund theoretisch nämlich zwei Konstellationen jenseits der AfD möglich. Mit derzeit 27 bzw. 24 Prozent Wählerzuspruch (Forsa) könnten Union und Grüne die absolute Mehrheit erreichen, aber auch Grün-Rot-Rot (G2R) rückt dank des „Ramelow-Effekts“ mit insgesamt 48 Prozent wieder in den Bereich des Denkbaren, wenn auch nicht bei allen Grünen Gewünschten.

Erschreckend ist, dass die gemeine Höcke-Falle zwar Union und FDP, nicht aber der AfD geschadet hat.

Eigentlich müsste das Land gar nicht in dieser maladen Situation sein, wenn die SPD, als sie noch so etwas wie eine Volkspartei war, ihre Beißreflexe gegen die Linken gezähmt und die Gunst der Stunde für ein links-grünes Bündnis genutzt hätte. Dann hätte die Union ihre rechten Ausreißer wieder einfangen können, zulasten der AfD. Hätte, hätte, Fahrradkette, alles kontrafaktisch. Jetzt also das Spiel mit der Decke, wer zieht sie wem weg, und wer spielt am Ende darunter? Friedrich Merz mit Cem Özdemir, der sich schon mal als Außenminister andient? Armin Laschet mit der grünen Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt, die keine Liaison ausschließen will? Oder Robert Habeck mit Markus Söder in neuer grüner Joppe, der vor allem auf Zeit spielt und sich für die „Tiefenströmungen unseres Landes“ zuständig fühlt?

Noch unkalkulierbarer wird das Ganze durch die angedachten „Teamlösungen“ – und nach 16 Jahren weiblicher Vorherrschaft kann die Union die Frauen wohl nicht ganz in die Etappe stellen –, täglich neuen Bewerbern (zuletzt Norbert Röttgen, der mit Laschet noch eine Rechnung offen hat) und anstehenden Richtungsentscheidungen. Beim Flirt mit der Union müssten die Grünen wohl den Anspruch auf die Kanzlerschaft aufgeben, den sie im Bündnis mit SPD und Linken zweifelsfrei hätten, umgekehrt wäre G2R ein ungleich unsichererer Einsatz und hätte höchstens Aussicht auf Erfolg, wenn sich Merz die Fahne stramm nach rechts ausrichtete. Andererseits ist das wiederum die Voraussetzung, die abtrünnigen Mitspieler zurückzuholen. Fraglich, wie viel Anhänger Merz dadurch im eigenen liberalen Lager verlöre.

Allerdings zwingen die Tatsachen zu Bündnissen jenseits aller Liebe. Die grundsätzlichen Entscheidungen sind nicht parteitaktischer Art, sondern betreffen den Umbau der Industriegesellschaft: Soll er systemaffin mit allen Rücksichten auf Kapitalinteressen organisiert werden, moderat-sozial abgefedert oder fundamental mit wachstumshemmenden und eigentumskritischen Impulsen? So wie sich die Lage darstellt, steht keine einzige der möglichen Koalitionen für Letzteres, weil die SPD der alten Industrie nachträumt und die Grünen die Eigentumsfrage schon lange nicht mehr stellen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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