Der Schande ausweichen

Kindesmissbrauch Neue Fälle fördern zutage, wie verlogen Kirche und Staat noch immer mit den Verbrechen umgehen
Ausgabe 25/2020
Eine Gartenkolonie in Münster, in der Anfang Juni elf Menschen wegen des Verdachts der Erstellung und Verbreitung von Kinderpornographie festgenommen wurden
Eine Gartenkolonie in Münster, in der Anfang Juni elf Menschen wegen des Verdachts der Erstellung und Verbreitung von Kinderpornographie festgenommen wurden

Foto: Lukas Schulze/Getty Images

Der lange Schatten reicht von der hehren Kanzel bis in die Niederungen abgewrackter Gartenlauben in den Herrgottswinkeln der Republik. Gottes Segen liegt nicht auf ihm, auch wenn sich mancher als dessen Stellvertreter wähnt und deshalb glaubt, auch die Kinder Gottes seien seins. Am Freitag vergangener Woche wurde dem Bischof von Limburg und Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, der Missbrauchsbericht seiner Diözese überreicht, beginnend mit dem Jahr 1946. Ein Jahr lang haben 70 Experten an dem 420 Seiten umfassenden Werk gearbeitet, das mit 61 Maßnahme-Empfehlungen schließt.

Was das Konvolut beinhaltet, dürfte dem, was die ermittelnden Beamten in Münster derzeit zu Gesicht bekommen, in der Sache in nichts nachstehen. Nur dass die säkularen Kindervergewaltiger heutzutage digitale Bildspuren hinterlassen, weil in der kapitalistischen Gesellschaft auch noch das Verbrechen gewinnbringend zu verwerten ist, in diesem Fall in Form von Kinderpornografie. Der 27-jährige Hauptverdächtige, seine Mitwissenden und -handelnden, die 45-jährige Mutter, die Männer, die den drei Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren Gewalt angetan haben, sitzen in Untersuchungshaft. Wie oft in solchen Fällen kommen die Opfer aus dem Familienumfeld, sind Söhne oder Ziehsöhne oder Neffen. Und keiner will etwas bemerkt haben, was sich im münsterischen Wohngebiet Kinderhaus, der Name schon Hohn, zugetragen hat. Dass die Kinder dort betäubt, stundenlang vergewaltigt und dies von dem bestens ausgerüsteten IT-Spezialisten aufgezeichnet und verdunkelt in alle Welt verbreitet worden war, um aus der Selbstbefriedigung anderer Männer Kapital zu schlagen: Keiner hat’s wissen wollen.

Es ist nach Lügde und Bergisch Gladbach der dritte, sehr weite Kreise ziehende Missbrauchsfall in Nordrhein-Westfalen. Vielleicht ist man im größten Bundesland inzwischen ein bisschen aufmerksamer geworden, weil Innenminister Herbert Reul (CDU) das Geschehen zur Chefsache gemacht hat. Aber machen wir uns nichts vor, Lügde und Münster ist überall, es passiert in Kirchen, Sportstätten und Schulen und vor allem hinter den zugezogenen Vorhängen des sogenannten Normalbürgers, der sich morgens korrekt uniformiert hinter seinem Schreibtisch niederlässt, nachdem er Sohn oder Tochter „gebraucht“ hat. Weil er „einfach neugierig war“, erklärte ein Polizist gerade vor dem Landgericht München.

Nein, kein Vergehen, sondern ein Verbrechen. So sollte es auch genannt werden. Aber zu glauben, dass die Strafverschärfung für Kinderpornografie, wie es die Union nun gegenüber Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) durchgesetzt hat, dem Übel an die Wurzel geht, gehört zu den vielen Selbstberuhigungen, mit denen die Gesellschaft dieser Schande, die sich vor ihren Augen ereignet, ausweicht.

Es sind keine „Monster“, sondern „Meister der Täuschung“, sagt der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes Rörig, immer darauf aus, dass das Schweigekartell in den Familien nicht gebrochen wird. Wie das Schweigen der katholischen Kirche, wenn Vorgesetzte die Täter geradezu „infam und verlogen“ gedeckt hätten, wie der Jurist Josef Bill beklagt. Es sind die Strukturen, in den Gerichten und Jugendämtern zum einen, im Lebensumfeld der Kinder zum anderen, die die Täter begünstigen. Und eben die Schweigenden.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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