„Wir müssen uns von Suggestionen befreien“

Medizin Die Internistin Gisela Schott über Medizin und Marketing
Ausgabe 32/2016
Der Handel mit Krankheiten ist für die Pharmabranche ein lukratives Geschäft
Der Handel mit Krankheiten ist für die Pharmabranche ein lukratives Geschäft

Montage: der Freitag, Material: iStockphoto, Getty Images

der Freitag: Frau Schott, ich fühlte mich total antriebslos heute Morgen. Könnte das das Symptom einer Krankheit sein?

Gisela Schott: Sicher gibt es Personen, die Ihnen sagen, das könnte ein Krankheitssymptom sein, und Ihnen vorschlagen: „Füllen Sie mal unseren Fragebogen aus!“ Wenn Sie ein Mann wären, würden Fragen kommen wie Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Muskelschwäche und dergleichen. Wenn man die Ergebnisse dann zusammenfasste, würden Sie vielleicht zu einem Arzt überwiesen werden. Der könnte dann, wenn er entsprechend angeleitet ist, auf die Idee kommen, es könnte ein Testosteronmangel vorliegen, und das entsprechend therapieren.

Gibt es dafür noch andere Beispiele?

Ein typisches Beispiel wäre das Burn-out-Syndrom, das keine Krankheit darstellt, sondern lediglich eine Ansammlung von Symptomen, so dass ihm in der Klassifikation von Krankheiten auch kein eigenständiger Diagnoseschlüssel zugewiesen wurde. Eine weitere angebliche Krankheit ist die hypoaktive Sexualfunktionsstörung der Frau, zu deren Behandlung in den USA kürzlich ein Arzneimittel zugelassen wurde – kaum wirksam, aber mit hohem Nebenwirkungspotenzial.

Zur Person

Gisela Schott ist Internistin und Fachreferentin bei der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in Berlin

Foto: Reiner Zensen/Deutscher Ethikrat

Wir haben es also nicht mehr wie bei Molière mit Menschen zu tun, die sich Krankheiten einbilden, sondern denen sie eingeredet werden?

Ja, wobei man aber festhalten muss, dass auch die Patienten selbst einen Beitrag dazu leisten. Es ist ein Geflecht, aber niemand wird dazu gezwungen. Es ist an uns, uns von dem zu distanzieren, was uns von pharmazeutischen Unternehmen suggeriert wird.

Und die verfolgen Geschäftsinteressen?

Natürlich sind es die pharmazeutischen Unternehmen und andere Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt wie Ärzte, Therapeuten oder Hersteller von Medizinprodukten, die für ihre Präparate oder medizinischen Angebote werben. Dabei weichen sie den Krankheitsbegriff immer mehr auf. Das, was früher normal war, wird dann zur Krankheit.

Sie verwenden den Begriff „Disease Mongering“ statt „Modekrankheiten“. Warum ziehen Sie den vor?

„Disease Mongering“ bedeutet Handel mit Krankheiten. Der ökonomische Aspekt ist für mich zentral. Dagegen transportiert der Begriff „Modekrankheiten“ die Dimension des Wirtschaftens mit Krankheiten überhaupt nicht.

Sie haben den Testosteronmangel angesprochen, die sogenannten männlichen Wechseljahre. Auf welche Weise wird ein Symptom überhaupt zu einer behandlungsbedürftigen Krankheit?

In manchen Fällen wird der Eindruck erweckt, dass seltene Erscheinungen häufig vorkommen. Das gilt für ADHS, beim sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit bei Kindern. Sicher gibt es Kinder, auf die diese Diagnose zutrifft, aber nicht alle Kinder, die unruhig sind, haben ADHS. Es gibt jedoch ein Interesse daran, die Fallzahlen auszuweiten, um entsprechende Medikamente abzusetzen.

Und es gibt die Fälle, die schlicht zum Älterwerden gehören, zum Beispiel Orangenhaut an den Oberschenkeln, Haarausfall bei Männern ...

Sicher, das sind die ganz normalen Prozesse des Lebens, die zur Krankheit erklärt werden. Zum anderen werden auch leichte Symptome zu Vorboten einer schweren Erkrankung aufgebauscht, wie bei den sogenannten restless legs. Eine weitere Strategie der Krankheitserfindung ist, persönliche Eigenheiten oder soziale Phobien medizinisch umzumünzen. Schüchternheit wird zur Krankheit erklärt oder Angst vor Spinnen.

Und es werden auch normale Risiken teils als Krankheit verkauft.

Ja, wie etwa bei Osteoporose. Natürlich kann Osteoporose Frakturen begünstigen, sie aber mittels eines Arzneimittels verhindern zu wollen, statt etwa durch Bewegung, kann in den Bereich von Disease Mongering gehören.

Warum sind wir so anfällig dafür?

Manchmal gibt es ja nicht einmal Symptome für eine angebliche Krankheit. Patienten werden zu Kranken gemacht, bevor sie selbst überhaupt etwas davon bemerken, bei Prädiabetes beispielsweise oder Prähypertonie. Es wird mit Ängsten gearbeitet, die Angst vor Glatzenbildung etwa oder die Angst vor Schwäche. Das passt zu einem Menschenbild, das an Selbstoptimierung orientiert ist. Die Menschen haben schon im Vorfeld Angst, nicht mehr gesund genug zu sein, nicht mehr mitzukommen. Aber auch Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten können Menschen so stark belasten, dass der negative Effekt überwiegt.

Das ist das Problem vieler Früherkennungsprogramme. Es geht bei der Erfindung von Krankheiten aber auch um die Neubestimmung von Grenzwerten. Wir haben das bei Cholesterin erlebt, bei den Werten für Diabetes, nun Testosteron. Gibt es überhaupt so etwas wie objektive Grenzwerte?

Im Fall von Testosteron gibt es keine altersspezifischen Grenzwerte. Man kann also nicht sagen, mit einem bestimmten Alter muss der männliche Hormonspiegel soundso hoch sein, sonst ist es pathologisch. Beunruhigender ist, dass bei Untersuchungen in den USA deutlich wurde, dass der Testosteronspiegel bei vielen Männern vor Beginn der Therapie gar nicht überprüft wurde, sondern das Hormon ohne vorherige Laboruntersuchung gegeben wurde. Und in einer neueren Veröffentlichung wurden die Ergebnisse zu möglichen Risiken der Therapie, darunter auch bei Prostatakrebs, gar nicht dargestellt.

Grenzwerte definieren unsere Vorstellung von Normalität und Abweichung?

Genau. Und viele Grenzwerte haben sich im Lauf der Zeit verändert. Einige müssen auch für jeden Patienten individuell festgelegt werden, weil nicht der einzelne Wert, sondern die Risikokonstellation insgesamt entscheidend ist, zum Beispiel beim Blutzucker oder beim Blutdruck. Aber es ist eben ganz schwer, den „richtigen“ Grenzwert zu bestimmen.

Wer bestimmt die Grenzwerte überhaupt?

Grenzwerte und therapeutische Leitlinien werden von Kommissionen festgelegt, in denen auch Ärzte sitzen, die Verbindungen zu pharmazeutischen Unternehmen haben.

Was muss getan werden?

Wie gesagt, sehe ich zunächst jeden Einzelnen aufgerufen. Wir müssen lernen, uns im Bereich Gesundheit unabhängige Informationen zu verschaffen, so wie wir uns vor dem Kauf einer Kamera bei der Stiftung Warentest informieren. Zur Gesundheit hält das „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ ein gutes Angebot bereit oder die Zeitschrift Gute Pillen – Schlechte Pillen.

Und darüber hinaus?

Es geht nicht an, dass Ärzte, die enge Verbindungen zur Pharmaindustrie unterhalten, in Kommissionen sitzen, in denen Krankheiten definiert, Grenzwerte festgelegt oder die Therapie-Leitlinien erarbeitet werden. In größerem Maßstab geht es aber auch um die klinische Arzneimittelforschung in Deutschland. Solange diese fast ausschließlich von der pharmazeutischen Industrie finanziert wird, wird man verzerrte Informationen erhalten.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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