Wo es Käufer gibt, reicht es nicht über Moral zu reden
Genetische Zukunft In Berlin diskutierten Fachleute verschiedener Disziplinen über den Stand des Humangenomprojekts und die Perspektiven einer individualisierten Medizin
Die Idee scheint bestechend: Ausgestattet mit einem Gen-Pass, der den Genotyp eines jeden Menschen ausweist und auf besondere genetische Risiken aufmerksam macht, könnte künftig am Krankenbett eine ganz individuelle Therapie einsetzen. Statt im trial-and-error-Verfahren Arzneimittel in unterschiedlichen Dosen zu testen, bis ein Patient "anspricht", könnte der Arzt mit speziell optimierten Medikamenten therapieren. Diese "evidenzbasierte Medizin" funktioniert computergestützt und macht den Nutzen allgemeiner Gentests unmittelbar einsichtig. So jedenfalls stellte Jürgen Brockmöller die sogenannte Pharmakogenetik als einen aussichtsreichen gentherapeutischen Anwendungsbereich einer "individualisierten Medizinversorgung" vor.
Rätsel(-)Krankheit: Kausaltherapie
ausaltherapie und Nebelkerzen Doch noch bevor der Göttinger Pharmakologe sein Wunschszenario buchstäblich an die Wand werfen konnte, verhakte sich die Berliner Genetikerin Margret Hoehe in den unüberschaubaren Variabilitäten der individuellen Genomanalyse, die Grundlage solcher maßgeschneiderten Medikamente wäre. Um überhaupt ein einziges individuelles Krankheitsgen identifizieren zu können, müssen - zumindest soweit es sich nicht um monogenetische, sondern um komplexe Volkskrankheiten wie Diabetes, Asthma, Alzheimer oder Krebs handelt - umfangreiche und langfristige Vergleichsanalysen angestellt werden. Der dann ausgewiesene genetische Risikofaktor - etwa das Risiko, an einem koronaren Herzleiden zu erkranken - sagt dann immer noch nichts darüber aus, ob ein Risikoträger tatsächlich erkrankt. Denn Ernährung, Lebensweise und viele andere Umweltfaktoren sind an der Entwicklung einer Krankheit beteiligt. So sind die kanadischen Inuit beispielsweise mit einem hohen genetischen Risikofaktor für Herzerkrankungen behaftet - und trotzdem wird die Krankheit in dieser Population kaum beobachtet. Umgekehrt ist eine "Zivilisationskrankheit" wie die chronische Darmentzündung schon seit 1920 bekannt, doch sie trat erst nach 1955 signifikant steigend in Erscheinung. Ein Beispiel dafür, dass der Mensch die Nische, für die er optimiert war, drastisch verändert hat, so jedenfalls der Kieler Kliniker Stefan Schreiber, der auf Grundlage dieses Befundes gleich Bedenken anmeldete: "Wie kann sich eine zufällige Generation erfrechen", fragte er, "Krankheit zu definieren und auszurotten, wenn das für künftige Generationen Therapieverweigerung und vielleicht Selektion bedeutet?" Denn wer kann schon wissen, ob eine bestimmte Disposition, die wir heute zur Krankheit erklären, in hundert Jahren nicht das Überleben sichert? Auch wenn sich die "Suggestivkraft des genetischen Determinismus" etwas verbraucht zu haben scheint, wie Ludger Honnefelder vom Deutschen Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE) hoffte, ist die Kluft zwischen denjenigen, die nach wie vor an die "Berechenbarkeit des Organismus" und "Kausaltherapien" (wie der Berliner Genetiker Hans Lehrach) glauben und den Skeptikern enorm. Das offenbarte sich auch auf einer vom DRZE und dem Bundesforschungsministerium ausgerichteten Tagung, die - ganz bescheiden! - das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen auszuloten hatte. Nicht nur erweist sich die genetische "Schrift" offenbar als "widerständiger" als angenommen und entzieht sich unmittelbarer "grammatischer" Entschlüsselung; das ganze Unternehmen scheint auch teurer und komplizierter zu werden, als ursprünglich angenommen. Die Vorstellung, man erreiche mittels Gen-Tests oder gar umfassender Gen-Screenings neue Therapiemöglichkeiten und damit eine "Reservemobilisierung" im Gesundheitssystem, wie der Gesundheitswissenschaftler Karl Lauterbach prognostizierte, scheint sich zumindest auf kurze Sicht nicht zu bestätigen. Vielmehr sind die mit Gen-Tests verbundenen Unwägbarkeiten - vom Medizinrecht bis zum Persönlichkeitsschutz - noch unabsehbar. Derzeit sind 1400 monogenetische Krankheiten - also Erkrankungen, die auf die "Störung" eines Gens zurückgehen wie etwa Mukoviszidose - bekannt und 1200 Krankheitsgene identifiziert. Jürgen Schmidke prophezeit, dass bis zum Jahr 2005 fast alle monogenetischen Krankheiten analysierbar sind. In Deutschland können von den 1400 bekannten Erkrankungen 280 bei 110 Testanbietern getestet werden. Da es aber keine verlässlichen statistischen Erhebungen gibt, ist seine Aussage, in den neunziger Jahren sei die Testhäufigkeit mit 90.000 Personen pro Jahr konstant geblieben, eher vorsichtig einzuschätzen. In Großbritannien, berichtete Alexander McCall Smith, könne man auf eine 500.000 Personen umfassende Forschungsdatenbank zurückgreifen und mit stolzen 3 Mio. Erfassungen ist die nationale Polizeidatenbank die größte der Welt. Datenschutzgesichtspunkte spielen im Vereinigten Königreich offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Zweifellos hat das Humangenomprojekt enorm zur Veränderung des Selbstkonzepts des Menschen und zu einer "Genetisierung des Alltags" geführt, die der schwedische Medizinethiker Göran Hermerén mit seinem launigen Durchgang durch die Medien demonstrierte. Was ist krank, was gesund? Wer ist für unseren Gesundheitszustand verantwortlich, wir oder unsere Gene? Was folgt daraus für die Prävention? Und welche ethischen Folgen haben die neuen Wahlmöglichkeiten, etwa bei der vorgeburtlichen Selektion? Und ab welchem Zeitpunkt wandelt sich eine Option in gesellschaftlichen Druck? In kaum überbietbarer Abstraktion umriss der Jurist Reinhard Damm die rechtlichen und gesellschaftlichen Folgen prädiktiver Tests, die unterschiedlichen Interessen, die an sie geknüpft sind und die Konsequenzen für die Betroffenen. Seine Faustregel "ohne Einwilligung kein Test, aber nicht jeder Test, in den eingewilligt wurde, ist indiziert" beschreibt die Spanne zwischen informationeller Selbstbestimmung und Drittinteressen (etwa durch Versicherungen) oder fremdnütziger Kommerzialisierung. Obwohl sich der Jurist eher für nicht-direktive Lösungen - vor allem im Hinblick auf die ärztliche Beratung - stark machte, wurde deutlich, dass der Umgang mit dem Recht auf Wissen oder Nichtwissen von der ärztlichen Beratungskompetenz abhängt - und die ist derzeit die Achillesferse im Medizinsystem. Hille Haker vom Tübinger Ethikzentrum plädierte deshalb einmal mehr dafür, nur solche Tests durchzuführen, durch die Krankheiten vorzubeugen oder zu therapieren sind. Gen-Transmitter Mensch Dass der sogenannte informed consent und die nationalen Gesetzgebungen in keinem Land auf der Welt bislang ausreichen, um die Eigentumsrechte der Beteiligten vor der wirtschaftlichen Verwertung des Körpers zu sichern, beschrieb die Ethikerin Donna Dickensen (Birmingham) in einem überragenden, in seiner globalen Perspektive die engen Zunft- und Geltungsgrenzen überschreitenden Beitrag. Wer etwa eine bestimmte Population mit altruistischen Argumenten zu einem Gesamtscreening veranlasse, ohne die Beteiligten am Gewinn zu beteiligen handele ebenso kriminell wie ein undemokratisches System, das seine Bevölkerung zu Gentests veranlasse. Das Recht am Körper, das heißt auch auf Gene, sei besser geschützt, wenn Gene statt als Gewebe als Information definiert würden, weil der Daten- und Urheberschutz weit besser ausgestattet sei als der Gewebeschutz. Deshalb schlug Dickensen vor, Individuen eher als "Transmitter" von Genen denn als ihre "Eigentümer" aufzufassen und den Eigentumsanspruch auf die physische Arbeit zu beschränken: Wo kein Eigentum an Substanzen, kein Verkauf. Denn wo es Käufer gibt, hatte Göran Herméren seinen Vortrag beendet, genügt es nicht mehr, über Moral zu reden. Moral mischte sich in Berlin, das wurde gelegentlich auch von Beobachtern konstatiert, vor allem als regulative Idee ein. Wie lässt sich eine Zukunft absichern, deren Risiken abwägbar werden, fragte Urban Wiesing in Bezug auf die Versicherungssysteme. Die Frage ließe sich dahingehend ausdehnen, welchen Bezugspunkt Moral hat, wenn sie zwischen Ressourcenknappheit und Verteilungsgerechtigkeit, Betroffenendruck und Drittinteressen eingespannt wird.
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