Die Bestandsaufnahme ihrer ersten Einzelausstellung hat Meret Oppenheim für die Nachwelt erhalten. In einem dicken Heft sammelte sie 1958 alles, was ihr aus der Kindheit und Jugend wichtig erschien, sowie Dokumente ihrer Entwicklung als Künstlerin bis 1943. Darunter ein maschinengeschriebenes Blatt, das mit handschriftlichen Anmerkungen versehen ist: Es verzeichnet die 20 Exponate, die vom 18. April bis zum 10. Mai 1936 in der Galerie Schulthess in Basel zu sehen waren, käuflich für 40 bis 700 Schweizer Franken. Das teuerste, Une minute sans danger, hatten offenbar die Eltern gekauft. Bei vielen anderen findet sich die nachträgliche Notation: „zerstört“, gelegentlich ergänzt durch den Bleistifthinweis: „wiedergemacht“, „wiede
„wiedergemalt“, irgendwann in den sechziger Jahren.Zu früh entdecktDieser Zettel manifestiert das ganze Drama einer Ausnahmekünstlerin, die, als Frau und ihrer Zeit voraus, vielleicht zu früh entdeckt und in Schablonen gepresst wurde. So konnte sich Meret Oppenheim lange nicht nach oben entfalten, sondern musste nach unten wachsen wie jener Baum, den sie in ihrer Traumallegorie Das Paradies ist unter der Erde (1940) entworfen hat: Eine auf den Kopf gestellte üppige Baumkrone wurzelt in himmlisch blauer Erde, während ein minimalistisch-karg gestalteter zweiter Baum eingemauert bleibt in einen Brunnenschacht. Darüber eine Winde mit einem Seil, das sich im Baumgeäst auflöst, aber nichts zutage fördert. Der Quell der Kunst liegt „unter dem Pflaster“ der Avantgarden, beengenden Schulen und Traditionen, denen sich Oppenheim ihr Leben lang zu entziehen suchte – bis hin zur Zerstörung ihrer Werke.Wenn nun anlässlich von Meret Oppenheims 100. Geburtstag im Oktober die große Retrospektive von Wien in den Berliner Gropius-Bau wandert, wird man auch in Deutschland eine der vielseitigsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts neu entdecken können. Überwältigend sind nicht nur ihre phantastischen Themen, Oppenheim war auch eine „Materialfresserin“, die Unvereinbares zusammenführte und verarbeitete: Stein, Glas, Porzellan, Metall, Fell, Holz, Weiches auf Hartem, Altes mit Neuem, Totes und Lebendiges. Neben den Zeichnungen und Gemälden steht das surrealistisch verfremdete Objekt im Mittelpunkt ihres Schaffens; doch Oppenheim entwarf auch Schmuck, Mode und Möbel, sie zog mit kunstvoll verfertigten Masken auf die Basler Fasnacht und vertrieb sie hinterher in ihrem temporären kleinen Laden. Außerdem schrieb sie Gedichte und führte ein Traumtagebuch, das Stichwortgeber ihres künstlerischen Werkes wurde. „Das Meer liegt erfroren am Strand / Die Statuen fallen ohnmächtig zur Erde / Tausend Blitze suchen verzweifelt den Ausgang“, so dichtete sie über ihr Suchen.Die Pelztasse allerdings, dieses von der erst 22-Jährigen entworfene Objekt, das zunächst im Salon der Surindépendants ausgestellt und anschließend vom MoMA in New York erworben worden war, erwies sich als Fluch. Einer von Oppenheim beförderten Anekdote nach war das Werk zufällig anlässlich eines Cafébesuchs mit Pablo Picasso und Dora Maar entstanden. Der tonangebende Surrealist André Bréton okkupierte es sodann, indem er ihm den beziehungsreichen Titel Das Frühstück im Pelz verpasste. Doch es blieb wie ein Stück Fell mit Oppenheim verwachsen. „Das Meretlein“, wie der über 20 Jahre ältere Max Ernst die zeitweilige Geliebte nannte, galt nun als surrealistische Künstlerin, aber eben auch als Muse und Objekt des Begehrens. Man Ray hat Letzteres in seinen berühmten Fotografien unsterblich gemacht.Doch wie sah sich die junge Frau, 1913 in Berlin-Charlottenburg geboren, aufgewachsen in der Schweiz, die 1932 mit ihrer Künstlerfreundin Irène Zurkinden nach Paris kam und nicht einmal Französisch verstand, selbst? Auskunft gibt die Sitzende Figur mit verschränkten Fingern (1933): Ein augen-, ohren- und mundloser „leerer“ Kopf, der aber aufmerksam einem nicht sichtbaren Gegenüber zugewandt ist. Die Schulabbrecherin Oppenheim, die bis dahin keine künstlerische Ausbildung erhalten hat, wird in Paris mit Ansichten und Theorien konfrontiert, die sie faszinieren und etwas in ihr zum Klingen bringen. Doch sie fürchtet auch das Korsett, in das die Surrealisten sie schnüren: „Ohne mich ohnehin ohne Weg kam ich dahin ohne Brot“, reflektiert sie dies in einem Gedicht 1969. Der doppelte Blick auf die Frau – der Blick der Männer und der sich darin spiegelnde eigene auf sich selbst – wird ein Thema ihrer Kunst werden, lange bevor Feministinnen darüber schrieben.Das kostümierte GeschlechtMeret Oppenheim ist sich bewusst, auf wessen Flügeln sie sich erhebt. Als Enkelin von Lisa Wenger, der ersten Frau, die an der Kunstakademie Düsseldorf studieren durfte, malt sie sich selbst als Parasit auf einem Vogel, der ihre Großmutter verkörpert. Der Vater, Erich Alphons Oppenheim, ein Arzt mit jüdischen Wurzeln, liebt seine Tochter, doch er steht ihrer Kunst, wie der Briefwechsel zeigt, distanziert gegenüber. Es sind aber nicht die äußeren, durchaus schwierigen Verhältnisse als vielmehr innere Konflikte, die Oppenheim schon in Paris in eine künstlerische Krise stürzen. Was ist ihr Eigenes als Künstlerin, was das von anderen an sie Herangetragene?Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs sieht sie sich gezwungen, in die konservative Schweiz mit ihrem beengten Kunstverständnis zurückzukehren. Sie beginnt Malerei zu studieren und bringt sich dürftig als Designerin durch. Doch der Zweifel nagt an ihr. Schon Die Steinfrau, 1938 entstanden, zeigt eine aus dem Wasser gleitende Frau, die sich an Land in Steine verwandelt. Die „Anpassung an die Mächte der Wirklichkeit“, auf die der Psychoanalytiker C. G. Jung den Vater vertröstet, nachdem er auf dessen Wunsch Meret 1935 untersucht hat, fällt der jungen Frau schwer. Eine Anzeige, in der sie jemanden sucht, der sie mit dem Motorrad ausfährt, führt sie mit dem Kaufmann Wolfgang La Roche zusammen, sie heiraten 1949. Sie ist ihm innig zugeneigt, doch zur Mutter in der Frau hat sie, wie zahlreiche Werke offenbaren, ein zwiespältiges, fast gewalttätiges Verhältnis. Die Ehe bleibt kinderlos.Meret Oppenheim gibt sich nicht nur androgyn, sie ist auch überzeugt, dass gute Kunst männlich und weiblich sein muss. Das manifestiert sich insbesondere in den verfremdenden Assemblagen, die oft Fetisch-Objekte inszenieren. In den Pelzhandschuhen (1936) etwa oder in einem Paar wie im Kuss versunkener Damenstiefel, „die unbeobachtet in der Nacht Verbotenes treiben“ (Das Paar, 1959). Das Objekt-Geschlecht erscheint kostümiert, entzieht sich so allen Zuschreibungen. Es ist ein ähnliches Verfahren, wie es Oppenheim bei der Pelztasse anwendet: Das Alltägliche wird aus seiner gewohnten Funktionalität gelöst, indem sie es maskiert. Oppenheims Verhältnis zu den Dingen und Menschen erscheint kindlich-liebevoll, die Inszenierung jedoch ist ironisch, gerade so wie es ihr Verhältnis zu den Surrealisten war.1959 sagt sie sich von allen surrealistischen Manifestationen los. Als Harald Szeemann wenig später als Leiter der Kunsthalle Bern zu einem Zentrum der Avantgarde macht, holt er Meret Oppenheim auf die Bühne der Kunst zurück. Sie beginnt Verworfenes neu zu gestalten, erste größere Ausstellungen vorzubereiten. In den Siebzigern beteiligt sie sich kritisch an den feministischen Debatten über Frauenkunst. Endlich scheint die Zeit reif für eine wie Meret Oppenheim.„Wenn ein Künstler etwas zu sagen hat, schreibt sie 1977, „findet er immer seine Form und seine Mittel. Was vor ihm war und um ihn, kümmert ihn nicht. Man spricht viel zu viel von Einfluss.“ Sollte die Eigenständigkeit ihres Werkes nun noch einmal auf der Probe stehen, wird sie mit dieser Retrospektive fraglos bestanden. Aber Proben waren schon der Schülerin Meret verhasst, die ihre künstlerische Laufbahn noch im Mathematikunterricht mit der Gleichung x = Hase begann. Auch dieses Blatt hat die Zettelsammlerin aufgehoben.
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