Monika Maron, schrieb ein Laudator anlässlich ihres 60. Geburtstages im vergangenen Jahr, sei eine Autorin, die nicht lügen kann, die lediglich das Erlebte ordnen, aber nicht wirklich fiktiv erzählen will. Diese Einschätzung scheinen nicht nur die seit 1981 veröffentlichten Werke zu bestätigen - angefangen bei dem in der DDR verbotenen Roman Flugasche, der dann im Westen in der damals innovativen, mittlerweile verblichenen Collection S. Fischer erschien, bis hin zu dem vor drei Jahren erschienenen Familienopus Pawels Briefe (Freitag 10/99) -, sondern auch viele Selbsterklärungen der Autorin. Ganz im Sinne Niklas Luhmanns, der einen Lebenslauf strukturell als Ansammlung zufälliger Wendepunkte interpretiert, bleibt sich Maron auch in ihrem dieser Tage
aron auch in ihrem dieser Tage erschienenen Roman Endmoränen treu: "Ich führte ein Doppelleben, ein wirkliches und ein erzähltes, wobei sich das eine vom anderen kaum unterschied, nur verstand ich, was ich erlebt hatte, erst, indem ich es erzählte oder mir vorstellte, was geschehen wäre, hätte ich die jeweils andere Entscheidung getroffen." Diese nachgetragene Sinngebung eines Lebens hat Pierre Bourdieu einmal als "biografische Illusion" bezeichnet, weil der dabei konstruierte Lebenslauf selbst schon wieder künstlich ist, eine fiktiv vorgestellte Einheit von Person und Leben. Insofern spielen die Brüche, aus denen sich nach Luhmann ein Leben zusammensetzt, in der narrativen Bearbeitung tatsächlich eine besondere Rolle als spielerisches Element: An den alternativen Entwürfen lassen sich nicht nur Möglichkeiten und Grenzen einer Biographie durchspielen, sondern sie liefern auch den Prüfstein des tatsächlich Erlebten. Für Johanna, die Erzählerin in Monika Marons Geschichte, fiel die Möglichkeit einer biografischen Lebenswende mit der politischen Wende 1989 zusammen. Aber ausgerechnet sie, die als professionelle Biographin und Nachwortschreiberin "genug wusste über die zufälligen und schicksalhaften Fügungen in fremden Biographien" erkennt die Möglichkeiten nicht, kam nicht auf "Idee, meine eigene neu zu erfinden oder wenigstens auf ein anderes Gleis zu lenken." Zehn Jahre nach der Wende verbringt Johanna den ersten Sommer in ihrem, eher zufällig erworbenen Sommerhaus in Basekow und versucht sich an der Biographie von Wilhelmine Enke, der vergessenen Geliebten Friedrich Wilhelm II. Doch die Auseinandersetzung mit der Geschichte der ungewöhnlichen und mutigen Frau, die als misstrauisch beäugte und verfemte königliche "Kurtisane" ihre "zweite Chance" ergriff, stürzt Johanna in eine Arbeits- und Identitätskrise. Zum einen begreift sie, dass sich in den Biographien keine subversiven "Botschaften" mehr verstecken lassen und auch der tabufreie Gebrauch der Worte sich aufbraucht, wenn es keinen Zensor gibt, der sie verfolgt. Darüber hinaus spürt Johanna aber auch, dass das, was sie von ihrem Leben noch erwarten kann, eine "öde lange Restzeit" ist, "in der wir nur noch als Zielgruppe von Verkäufern aller Branchen und als katastrophaler Kostenfaktor für die Krankenkassen wichtig sind." Aus dieser Perspektive ist Endmoränen - der Titel verweist bereits darauf - auch ein Roman über das Älterwerden, genauer gesagt über das Älterwerden von Frauen und ihrem "aussichtslosen Kampf gegen die Haare, die Haut und das Fleisch". Nur eine verspätete persönliche Midlife-Crisis also oder doch mehr eine generationenspezifische Abrechnung mit vorenthaltenen und verpassten Lebenschancen? Nicht verhehlen kann Maron auch in diesem Fall den politisch grundierten und autobiografisch wirksamen Stachel: "Heute kommt es mir so vor", schreibt sie dem vergessenen Münchener Freund Christian, den sie, als sie endlich reisen durfte, aus den Augen verloren hat, "als hätte ich damals immer darauf gewartet, daß mein eigentliches Lebens eines Tages noch beginnt." Jetzt, einige Jahre später, hat sie das Gefühl, dass es für das "eigentliche Leben" zu spät ist, "weil wir gar nicht mehr dran sind mit dem richtigen Leben." An den Freundinnen - Elli, die vor 1989 ausreiste und sich in Berlin-Kreuzberg etablierte, oder der Malerin Karoline Winter, die in Basekow ein mondänes Haus führt und sich ansonsten auf dem internationalen Kunstparkett bewegt - buchstabiert Johanna die Alternativen. Elli kämpft mittlerweile mit einem jüngeren Vorgesetzten, Karoline fehlt die Familie, der sie etwas vererben könnte, und an Irene, der körperbehinderten Schulfreundin, von deren Zuneigung sie zu spät erfährt, erkennt sie den eigenen körperlichen Verfall. Selbst die beiden ihr am nächsten stehenden Menschen - die Tochter Laura, die nach Amerika will und keine Zeit hat für ein Kind und der Lebensgefährte Achim, der plötzlich "institutionellen Ehrgeiz" entwickelt und mit dem sie nur noch eine Art "Alterstreue" verbindet - scheinen abgerückt und sich ihr entfremdet zu haben. Dagegen werden der ferne Christian und Wilhelmine Enke, die sich den Wechselfällen ihres Lebens stellte und obsiegte, zu den fiktiven Bezugspunkten dieser melancholischen Auseinandersetzung mit dem Älterwerden. Wenn Freiheit die Vielzahl von Möglichkeiten ist, dann scheint das Alter in eine Unfreiheit zurück zu führen, der die junge Johanna durch ihre "Botschaften" zu fliehen suchte. Schade, dass Monika Maron es nicht bei diesem intelligent angeordneten und sprachlich versiert eingerichteten Set belassen hat, sondern ihre Figuren zum Sprachrohr der schlechten Zustände macht und sie seitenlang über den Stand der Emanzipation lamentieren lässt, über Gentechnik, Wunschkinder und Tierversuche und über den sterbenden Planet überhaupt, der zum Sinnbild der persönlichen Kränkung wird: Die Erde, lässt sie etwa Elli schwadronieren, sähe von oben aus "wie eine kranke Haut, auf der sich ein Ekzem wild ausgebreitet hat, wie von Milben befallen. Wenn die Menschen für die Erde nun so etwas wären wie Krätze?" Oh, Jammer! Schade mehr noch, dass das Dorf Basekow herhalten muss für jedes Klischee, das über den Osten kolportiert wird: Da wimmelt es von aggressiven und gewalttätigen Glatzen, und es werden die berühmten Maschendrahtzaunkämpfe ausgefochten, denen - natürlich! - die armen Ostler unterliegen. Dass am Ende dann noch ein tougher junger Russe namens Igor angeritten kommt und dazu beiträgt, dass sich Johanna wieder begehrt fühlen und in die Stadt zurück kehren kann und auf dem Weg dorthin auch noch prompt einen waisen Hund aufliest und in Obhut nimmt, ist schließlich der Gipfel dieser Schnulziade. Im Gegensatz zu den Amerikanern, gab Maron einmal zu Protokoll, vermeide sie Geschichten mit versöhnlichem Ende. Wie viel Altersmilde mag über die so streitbare Autorin gekommen sein, dass sie die Wechselfälle und Brüche des Lebens neuerdings in Soap-Manier anrichtet? Aber dort ist ja auch viel von "Eigentlichkeit" die Rede.Monika Maron: Endmoränen. Roman. S. Fischer, Frankfurt 2002, 252 S., 19,90. EUR
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