Zu viele offene Fragen

Sozialkassen Knapp 7 Milliarden Euro sind den Sozialkassen verloren gegangen. Wer genau da im Rückstand ist und warum, will die Finanzaufsicht bislang nicht sagen

Nein, von Vorteilsnahme, Bereicherung oder was man aus den Untiefen kapitalistischer Gaunermentalität so alles kennt, kann keine Rede sein. Aber eben auch nicht von Peanuts. Wenn knapp sieben Milliarden Euro, die im Tresor der Sozialkassen liegen müssten, einfach mal so wegtauchen, ist das keine Kleinigkeit. Hätte man das Geld, entspräche das 0,7 Prozentpunkten weniger Beitragslast, rechnen Ökonomen vor.

Die sitzen beim Bundesrechnungshof und haben gerade die aufgelaufenen Außenstände der Sozialversicherungen – also Kranken- und Pflegekassen, Renten- und Arbeitslosenversicherung ­­­– zusammenzählt. Der Rentenkasse sind demnach in den vergangenen Jahren schon 2,5 Milliarden Euro verloren gegangen, und die aktuellen Beitragsrückstände betragen im September noch einmal eine gute Dreiviertelmilliarde. Bei den gesetzlichen und privaten Krankenkassen fehlten im Lauf der Zeit fast zwei Milliarden, und mehr als eine halbe Milliarde sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer dort aktuell im Rückstand. So jedenfalls geht es aus den Prüfberichten des Bundesversicherungsamtes hervor, die der Rechnungshof ausgewertet hat.

Angesichts der Billionen, die mittlerweile EU-weit hin- und hergeschoben werden, scheint das wenig. Doch heruntergerechnet auf die soziale Wirklichkeit könnten auch die fehlenden 0,8 Milliarden Euro bei der Arbeitslosenversicherung eine Menge bewirken. Damit ließe sich zum Beispiel der Rückbau des zweiten Arbeitsmarktes bremsen, von dem schwer vermittelbare Arbeitslose profitieren. Die ausstehenden Krankenkassenbeiträge fehlen in der Versorgung.

Bereits 2006 hatte der Bundesrechnungshof drei Milliarden Euro Außenstände bei den Sozialkassen bemängelt. Nun hat sich diese Summe in nur fünf Jahren mehr als verdoppelt. Die Finanzhüter vermuten dahinter Misswirtschaft und Schlampigkeit bei den Kassen und Ineffektivität und Inkompetenz bei der Verfolgung von Ansprüchen.

Das mag ja so sein. Es ließe sich aber auch fragen, wer die Schuldner sind, und woran es liegt, dass die Sozialversicherungen Rückstände nicht nachdrücklicher einfordern. Warum werden, wie der Rechnungshof mitteilt, „Vollstreckungsaufträge nur mit zeitlicher Verzögerung“ eingeleitet? Und weshalb werden keine Zinsen erhoben? Schonen die Sozialkassen die Arbeitgeber? Oder fürchten sie, klamme Firmen in den Ruin zu treiben? Und was ist mit den vielen Arbeitnehmern, die ihre Beiträge an die gesetzlichen oder privaten Kassen nicht mehr aufbringen können und immer weiter in Rückstand geraten? Soll man ihnen den Versicherungsschutz entziehen?

Man werde im Jahr 2012 die Gründe für die hohen Rückstände zur Sozialversicherung gesondert untersuchen, kündigen die Prüfer an. Denn wer genau im Rückstand ist und warum, kann oder will die Finanzaufsicht bislang nicht sagen. Die angekündigte Untersuchung könnte, wenn denn die richtigen Fragen gestellt werden, eine brisante Quelle der Sozialberichterstattung werden. Doch könnte sie auch offenbaren, dass die Solidarkassen bei allen Wettbewerbs-Hokuspokus eben keine „normalen“ Unternehmen sind, sondern den Kern des Sozialen noch in sich tragen. Zumindest dafür sollten sie nicht gescholten werden.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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