Von ihrer Begeisterung für die Errungenschaften der technischen Zivilisation hat sie nie einen Hehl gemacht, am liebsten, erzählte sie mir einmal, sei ihr das Handy. Das war zu einer Zeit, als das Nervgerät nur als Telefon nutzbar war und sie auf den Fax- und Mail-Versand noch verzichten musste. Als ich ihr vor einem Jahr wieder begegnete, in einer völlig neuen Wohnumgebung, schwärmte sie noch immer vom globalen Dorf, in dem man, egal in welcher entlegenen Ecke, jederzeit erreichbar sei. Für manche ist das mittlerweile eine unangenehme Vorstellung; doch irgendwie, findet Rita Kuczynski, sind wir alle Nomaden, auf der Suche nach Orientierungspunkten im Netz. Von daher ist es sicher kein Zufall, dass in ihrem neuen Roman Die gefundene Frau eine Obdachlose und da
dachlose und das Berliner U-Bahn-Netz die Hauptrollen spielen. Eine alterslose, jedenfalls nicht mehr ganz junge Frau findet sich nach einem Konkurs in einem Berliner Obdachlosenheim wieder, wo sie eher aus Zufall den Namen Agnes annimmt. Mit dem Namenswechsel und dem Verkauf einer vom Konkursgericht übersehenen Grabstätte bricht sie endgültig mit der Vergangenheit, wird "Hinterbliebene ihrer selbst". Selbst die letzten verbliebenen Habseligkeiten gibt sie einer Konzeptkünstlerin in Aufbewahrung. Noch weiß sie nicht, ob die Dinge mit der aufgespeicherten Erinnerung noch Bedeutung haben, ob sie zu der neu zu erfindenden Person Agnes "sprechen" können. Im Heim lernt Agnes den eigenartigen Straßenmusiker und Jogger Moses Grossman kennen, er hilft ihr, einen neuen "Schnittpunkt" in der Großstadt zu finden: weniger in dem provisorischen "Zeit-Raum", den sich Agnes an der Ein- bzw. Ausfahrt einer Hochbahn mietet, sondern an den Knotenpunkten der U-Bahn und im globalen Netz. Deshalb richtet Agnes nach ihrem Auszug aus dem Heim als erstes eine E-Mail-Adresse ein: "Nie mehr wollte ich in die Situation kommen, keine Adresse zu haben. Denn keine Adresse zu haben bedeutet doch auch, keinen Ort zu haben, an den man zurückkehren kann." Handy und Laptop werden zu den wichtigsten Utensilien in Agnes Leben und verhelfen ihr zu Bezugspunkten in einer neuen Existenz. Vordergründig liest sich die Geschichte von Agnes und Moses wie ein modernes Großstadtmärchen; und wie im Märchen stört es deshalb auch nicht so sehr, dass manche "Fügung" eher unwahrscheinlich erscheint, die technischen Details ein wenig durcheinander geraten - wer zum Beispiel hat schon mal aus einer Telefonzelle seinen Laptop online geschaltet?! - und die Stimme aus dem Off, die Agnes immer wieder den rechten Weg weist, ein bisschen kitschig an den biblischen Verkündigungsengel erinnert. Dass Agnes so mir nichts dir nichts mal nebenbei ihre Homepage bastelt und als Webmasterin nach Columbus, Ohio bestellt wird, wo ein ganz neues Leben beginnen wird, möchte nur der bemäkeln, dem alle Phantasie und aller Wunderglaube abhanden gekommen sind. War es doch die tiefgründige Philosophie in der Online-Bewerbung von Agnes gewesen, die diesen wundersamen Aufstieg bewerkstelligte: "Eine Homepage", schrieb sie dort, "kann wie eine Wohnung sein. Man kann Erinnerungen, Dokumente und Gegenstände der Vergangenheit auf ihr sammeln. (...) Man kann also einen Ort im weltweiten Netz richtig wohnlich machen, sodass man gern an ihn zurückkehren möchte, wie man gern zurückkehrt an den Ort, der einem ein Zuhause sein kann." Zeit, Erinnerung und ein Leben an der Grenze sind nicht neu in den Romanen der einst vom Westen in den Osten geratenen Rita Kuczynski, die ihre tatsächlichen und imaginären "Zonensprünge" in ihrem 1999 erschienenen Rechenschaftsbericht Mauerblume belegte. Für sie als Eingeheiratete in eine Familie der DDR-Nomenklatura geriet die "Grenze" zur existenziellen Demarkationslinie. Die Musik und die Philosophie waren für sie Auswege aus der verordneten politischen Existenz: "Ich habe", erklärte sie einmal, "lange daran geglaubt, man könnte mit einer schönen Theorie, mit einem schönen Lied, mit einer guten Sinfonie die Welt ändern." Beide, die Musik und die Philosophie, spielen auch in dem neuen Roman eine wichtige Rolle: die Musik, weil sie die Koordinaten im Zeit-Raum neu zusammenfügt - "fugt", wie Kuczynski sagen würde -, die Philosophie, weil sie den Sinn-Boden herstellt. Aber in Die gefundene Frau ist es gerade diese Philosophie, die die Erzählung gängelt und stranguliert. All die detailreich und fast naturalistisch beschriebenen Orte - all die U-Bahn-Tunnel und -Knotenpunkte und -Umsteigebahnhöfe -, aber auch die Figuren selbst behaupten sich nie für sich alleine, sondern weisen stets über sich hinaus und werden zu Sinnbildern einer vielleicht lebensklugen, doch auch etwas blutarmen Betrachtung. Dazu gelegentlich Sinnsprüche von höchster Schlichtheit - "wir haben keine andere Zeit als diese" - und Ereignisse, die aus dem Zufall philosophische Notwendigkeit machen, wie die Überschwemmung des Tunnels, in dem die gelagerten Erinnerungsstücke von Agnes lagern: "Nun, da die Lampen (!) in diese sintflutartige Überschwemmung geraten waren, hatten sie eine Bedeutung erlangt, die sie ohne die Katastrophe nicht gehabt hätten. Denn jetzt waren sie verloren gegangen." So bleibt das Märchen von Agnes und Moses am Ende in der philosophischen Verweisfalle hängen: es birgt kluge Überlegungen zur entwurzelten Großstadtexistenz, schürft in den Untiefen von Wahrheit und Kopie und feiert eben die moderne Technik als mögliches Exit, Befreiung von den "Ursprungsbindungen". Dies bildlich zu transportieren, hätte man dem Buch allerdings einen kunsthistorisch versierteren Umschlagsdesigner gewünscht: Der zum völligen Klischee erstarrte Mythos der Neuen Frau - hier im angerissenen Porträt Maikas von Christian Schad - ist kaum das, was Rita Kuczynski mit "zweiter Schöpfung" gemeint haben kann. Rita Kuczynski: Die gefundene Frau. Roman. 207 S., Claassen-Verlag, München 2002., 207 S., 18 EUR
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