Zwiespältiges Lob

Flüchtlingskrise Angela Merkel sprach sich für Geflüchtete aus und gibt sich noch immer ungewohnt haltungssicher. Warum die Kanzlerin in Europa keine Mauer bauen wird
Ausgabe 41/2015
Merkels Staatsbesuch in Indien brachte ihr die Kritik ein, sie ducke sich vor der Flüchlingskrise weg
Merkels Staatsbesuch in Indien brachte ihr die Kritik ein, sie ducke sich vor der Flüchlingskrise weg

Foto: Prakash Sing/AFP/Getty Images

Wenn man ein Fremder ist, hat man keine Wahl, heißt es in Jenny Erpenbecks buchpreisverdächtigem Flüchtlingsroman Gehen, ging, gegangen. Wenn man aus einem Land flieht, in dem Bürgerkrieg herrscht, gibt es die Wahl, auf den Tod zu warten oder zu fliehen, in der Hoffnung, dass man irgendwo anders Zuflucht findet. Für einen Flüchtling ist es dabei zunächst egal, ob nur wenige sich aufmachen oder viele, denn er hat nur dieses eine Leben.

Das scheinen Seehofer und Co., die die Kanzlerin derzeit vorführen wie eine weltfremde Idealistin, die über Nacht ihr vermeintlich großes Herz entdeckt habe, nicht zu begreifen. Sie reden von „den Grenzen der Belastbarkeit“, „Fehlanreizen“ und vom „numerischen Limit“. Angela Merkel hat die Türen nach Europa geöffnet, so wie Ungarn sie einst öffnete für die Ostdeutschen auf ihrem Weg in die Einheit, die dieser Tage zum 25. Mal gefeiert wurde.

„Wir schaffen das“, sagte sie lapidar. Bis Ende September schien es, dass sie ungeahnte Animationskräfte entfalten und das hilfsbereit-einige Volk mobilisieren könnte. Doch angesichts der schwieriger werdenden Situation in den Kommunen, dem populistischen Salbader und der wetterwendischen Volksmeinung ist die Kanzlerin immer stärker unter Druck geraten. Ihr wird vorgeworfen, sich in Indien wegzuducken anstatt hierzulande mit einer deutlichen Ansage, in der von Überforderung, Belastungsgrenzen und Grenzschließung die Rede zu sein hätte, ihr angebliches Geschwätz von gestern vergessen zu machen.

Doch Angela Merkel bleibt ungewohnt haltungssicher. Weder der Meinungsumschwung, soweit er durch Umfragen abgebildet werden kann, noch fallende Sympathiewerte scheinen sie zu beirren. Dass die CSU die Gelegenheit nutzt, sie vor sich herzutreiben, dürfte sie weniger tangieren als die Kritik, die inzwischen bis weit in die eigenen Reihen reicht und auch aus der SPD immer lauter wird. Besser wird es auch nicht dadurch, dass ihr die angeschlagene Ursula von der Leyen zur Seite springt. Verteidigung aus ihrem Mund ist derzeit so effizient wie das treffunsichere Sturmgewehr G36.

Hat Merkel den Realitätssinn verloren für die Möglichkeiten ihres Landes? Will sie ihm das Unmögliche abverlangen? Die Rettung Griechenlands konnte sie noch als europäisches Projekt annoncieren. Doch die Rettung „der ganzen Welt“, die nun, wie es immer öfter zu hören ist, nach Deutschland „einfällt“, wäre höchstens prädestiniert für den Friedensnobelpreis.

Dabei weiten sich die Flüchtlingsregionen derzeit aus, greifen auf Afghanistan und mit den Bombardierungen wohl bald auf auch Kurdengebiete über. Und auch die in den türkischen oder libanesischen Lagern Verharrenden werden Hunger und Perspektivlosigkeit irgendwann weitertreiben. Europa erntet, was es mit gesät hat. Für Deutschland bedeutet das 800.000, eine Million oder vielleicht sogar 1,5 Millionen Flüchtlinge. Wer will das heute wissen? Und die Grenzen der Belastung sind, wie der ganz normale Flüchtlingsalltag zeigt, durchaus relativ.

Das Lob für die Bundeskanzlerin muss allerdings zwiespältig bleiben. Denn ihre Unbeirrbarkeit wird begleitet von Asylrechtsverschärfungen, die verheerende Folgen haben und eine neuerliche Abschottungsära einläuten. Was Angela Merkel ansonsten bliebe, sind der Bau einer Mauer und Grenzsoldaten. Das aber könnte eine Kanzlerin, für die die DDR nicht einmal grundrenoviert eine Option war, vor sich und der Welt nicht rechtfertigen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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