Sexuelle Folter in Gefängnissen

TÜRKEI Um ganze Familien zu vertreiben, werden gezielt Frauen verhaftet und vergewaltigt

Die Frauen sind oft nur als Stellvertreterinnen im Gefängnis - trotzdem werden sie gefoltert. Eine besonders perfide Form der Kurdenvertreibung, gezielt betrieben von sogenannten Sicherheitskräften: Polizisten, Spezialeinheiten, Dorfschützern. Die sexuelle Folter der Frauen soll Identität brechen - geschlechtliche, politische, nationale. In der Türkei kann die Polizei Menschen für fünf Tage inhaftieren - in den Gebieten, die unter Notstandsrechts stehen, sogar für zehn . Ohne sie dem Haftrichter vorzuführen. In dieser Zeit der Incommunidado-Haft wird den Häftlingen meist jeder Kontakt zu Angehörigen oder zu einem Rechtsbeistand verwehrt. Politisch engagierte Kurdinnen oder weibliche Angehörige von mißliebigen Kurden für einige Tage zu inhaftieren und die Frauen zu vergewaltigen, ist die einfachste Art, die ganze Familie, das kurdische Volk, zu treffen.

Die sexuelle Mißhandlung weiblicher Familienangehöriger von Oppositionellen und Kurden zielt darauf ab, die »Ehre« der gesamten Ethnie zu beschmutzen, es ihr unmöglich zu machen, am Ort zu bleiben. Wird eine Frau von Sicherheitskräften abgeholt, weiß die Nachbarschaft, wie die Frau verletzt wird. Die Ehre der Frauen und die Ehre der Männer, die ihre Frauen nicht nur nicht schützen können, sondern oft der Anlaß für die Gewalt an der Stellvertreterin sind, ist verloren.

Frauen, vor allem kurdische Frauen, erleiden in türkischen Gefängnissen verschiedene Arten sexueller Folter: Festgenommene Frauen müssen sich vor den Sicherheitsbeamten nackt ausziehen, sie werden zwangsweisen Jungfräulichkeitskontrollen in Gegenwart von Männern unterzogen, angeblich, damit sie nachher nicht behaupten könnten, in der Haft sexuell mißbraucht worden zu sein und infolgedessen ihr Hymen verloren zu haben. Während Frauen in anderer Weise malträtiert werden, begrabschen die Folterer sie zusätzlich an den Genitalien. Vergewaltigung ist die extremste, aber nicht die einzige Form der sexuellen Folter.

Die Frauen haben kaum eine Möglichkeit, sich zu wehren. Viele können die Täter gar nicht identifizieren, weil ihnen während der Vergewaltigungen die Augen verbunden waren. Die Täter - Polizisten oder Armeeangehörige - werden in den seltensten Fällen vor Gericht gestellt, denn zur Anklage von Beamten, die im Verdacht stehen, in Ausübung ihres Amtes Straftaten begangen zu haben, ist im allgemeinen die Zustimmung der Verwaltungsbehörden erforderlich. Kommen die Täter tatsächlich vor Gericht, wird das Verfahren oft wieder eingestellt. In den wenigen Ausnahmefällen, in denen ein Beamter verurteilt wird, fällt die Strafe milde aus. Dieses Klima von fast völliger Straffreiheit öffnet der Willkür von Polizeibeamten Tür und Tor.

Das türkische Strafrecht hat bis heute die weibliche Identität nicht anerkannt. Sexualstrafdelikte fallen unter »Straftaten gegen die allgemeine Moral und familiäre Ordnung«. Sexuelle Mißhandlung oder Nötigung stellen im türkischen Strafgesetzbuch keine eigenständige Straftat dar. Auch Vergewaltigung wird äußerst eng ausgelegt (Art. 416 türk. StGB), und die Beweislast liegt bei den Frauen. Die Opfer der sexuellen Gewalt sind meist derart traumatisiert, daß sie, wenn überhaupt, erst wesentlich später darüber zu sprechen beginnen. Dann aber können längst keine körperlichen Spuren mehr nachwiesen werden. Das Gericht erkennt allerdings nur medizinische Stellung nahmen an. Psychologische Gutachten über die Traumatisierung von vergewaltigten Frauen werden nur in seltenen Ausnahmen zugelassen. In den medizinischen Beurteilungen müssen körperliche Spuren der Tat dokumentiert werden. Sperma läßt sich allerdings nur bis etwa 48 Stunden nach der Tat nachweisen. Wird eine Verletzung des Hymens festgestellt, was nur innerhalb von zehn Tagen möglich ist, behaupten die Gerichtsmediziner nicht selten, daß es sich um weiter zurückliegende Verletzungen handelt. Oft finden die gerichtsmedizinischen Untersuchungen - entgegen internationalen Regeln - im Beisein von Polizeibeamten statt, so daß die Gefolterten sich nicht trauen, über sexuelle Mißhandlungen zu sprechen. Häufig werden Angaben darüber von den Gerichtsmedizinern nicht überprüft oder einfach negiert, medizinische Gutachten werden auch gefälscht.

Dort, wo Notstandsrecht anstelle von Recht gilt, haben die Frauen noch weniger eine Chance, rechtlich gegen die Folterer vorzugehen, als im Westen der Türkei. Zeigen sie den Dorfschützer an, erhält die Familie massive Drohungen. Die Frauen sollten die Anzeige zurückziehen, oder die Familie werde gezwungen, die Gegend zu verlassen. Oft drohen die Sicherheitskräfte, wenn die Anzeige nicht zurückgenommen werde, würden sie Schwestern oder andere weibliche Familienmitglieder sexuell mißhandeln. Oder sie greifen sich die Frau, die die Anzeige gewagt hatte, einfach erneut, um sie wieder zu vergewaltigen.

Vor rund einem Jahr wurde in Istanbul ein Rechtshilfebüro für Frauen gegründet, die in Polizeihaft sexueller Mißhandlung und Folter ausgeliefert waren. Zwei Drittel der 66 Frauen, die bisher Rechtsbeistand in Anspruch genommen haben, sind Kurdinnen. 52 Frauen waren aus politischen Gründen in Polizeihaft.

Diese Zahlen sind nicht repräsentativ, da das Bewußtsein und der Mut, sich gegen sexuelle Mißhandlung und Folter zur Wehr zu setzen, bei weitem noch nicht ausreichend vorhanden sind. Die Zahlen zeigen aber deutlich, daß alle Frauen von sexueller Mißhandlung in Polizeihaft bedroht sind, und daß diese Gewalt politisch thematisiert werden muß.

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