Ein grünes Tor, ein Zahlenschloss, dahinter eine Privatstraße: 70 Eingeweihte haben per E-Mail oder am Telefon den Code erhalten, um durch das Tor zum Aufgang B zu kommen und damit zu „Jim‘s Sunday Dinner“, einem Salon, der seit fast 30 Jahren jeden Sonntag im 14. Pariser Arrondissement stattfindet – offen für jeden.
Menschen aus aller Welt versammeln sich zum Essen, Trinken, Reden in Jim Haynes 60 Quadratmeter großen Wohnatelier mit Küche. Mehr als 100.000 Gäste seien schon bei ihm gewesen, hier hätten sich Freundschaften, Geschäfte, sogar Ehen angebahnt, sagt Jim. Er besteht darauf, dass ihn alle beim Vornamen nennen, und dass Frauen ihm zur Begrüßung Küsschen links und rechts geben. In seinen Salon kann sich jeder selbst einladen, indem er anruft (+33-1-43271767) oder schreibt: jim(at)jim-haynes.com. Sofern nicht die maximale Gästezahl schon überschritten ist, schickt Haynes Adresse und Türcode.
Es kommen Studenten, Rentner, buddhistische Mönche, norwegische Tänzerinnen, amerikanische Studenten oder der kubanische Kulturattaché – jede Woche sei es eine neue Überraschung, sagt Haynes, 79 Jahre alt, in Lousiana geboren und in Venezuela aufgewachsen: „I love it“.
Während draußen hinter den Fliederbüschen die letzten Sonnenstrahlen verschwinden, zirkulieren vor Jim Haynes bereits die Schalen mit Rote-Beete-Suppe. Dazu gibt es Wein, Bier oder Softdrinks aus Plastikbechern. Die Gäste sprechen Französisch, Italienisch, Englisch, Russisch und einige schwer identifizierbare Sprachen, es ist fast unmöglich, sich dem Smalltalk zu entziehen, so eng ist es. Visitenkarten wechseln den Besitzer, ebenso wie Facebook-Namen. Die Leute stehen dicht gedrängt mit ihren Tellern im Atelier oder in dem kleinen Garten davor: eine junge UN-Mitarbeiterin aus Genf etwa. Sie trägt hohe Schuhe und einen kurzen Rock, ihr Lachen klingt bis in den Garten heraus. Haynes hat ihr zuvor Tänzer einer New Yorker Dance Company vorgestellt. Das Gespräch mit dem Trucker aus Arizona vorhin sei auch schon sehr interessant gewesen, sagt sie.
Die beste Zutat: Nähe
Jim Haynes, fast zwei Meter groß, weißhaarig und schnauzbärtig, sitzt den ganzen Abend auf einem Hocker, macht Häkchen auf seiner Gästeliste, begrüßt oder verabschiedet Gäste, macht die Leute miteinander bekannt. In seinem Holzfällerhemd und der blau-weiß-gestreifte Schürze, auf die sein Name gestickt ist, sieht Haynes aus wie ein gemütlicher Pensionär, weniger wie der Bohemian, als der er sich auf jim-haynes.com beschreibt: der im Londoner Underground Theaterstücke, Lesungen und Performances und in Amsterdam Festivals für freie Liebe organisiert hat. Henry Miller, Mick Jagger, Yoko Ono – detailliert führt Haynes in seinem Online-Tagebuch auf, wen er wann wo getroffen hat.
Jim Haynes reist gerne. Aber ihn interessierten weniger Orte, als vielmehr die Menschen, die sie ausmachen, sagt er: Feldarbeiter, Maler, Busfahrer, Tänzerinnen. Über seine Touren in Osteuropa hat er selbst einige Reiseführer geschrieben, die er bei den Abendessen und auf seiner Webseite verkauft. Sie enthalten keine Daten oder praktische Information zu dem jeweiligen Land, sondern vor allem kurze Porträts, Anekdoten und Biografisches der Menschen, die er dort getroffen hat. Und ihre Kontaktadressen, damit die Leser sie besuchen können. So vernetzte Haynes Reisende schon lange bevor Webseiten wie couchsurfing.org gab. Und auch seine Pariser Adresse wanderte weiter, seine Gäste empfahlen ihn Freunden und Fremden, es meldeten sich immer mehr Leute zur Supperparty in Paris an.
Offenbar hat das Internet das Bedürfnis nach einem Treffen mit realen Menschen an realen Orten nicht beseitigt. Im Gegenteil: Fremde und Bekannte, Reisende und Einheimische verabreden sich nun über Facebook, Google oder Twitter. Und so gibt es inzwischen in vielen Städten Dinner-Parties oder Supperclubs, die gerade wegen des Internets stattfinden.
In London etwa haben in den vergangenen Monaten mehrere Untergrundrestaurants in Wohnungen eröffnet. Horton Jupiter zum Beispiel lädt seit Januar jeden Mittwoch zu The Secret Ingredient, wie auch sein Facebook-Name lautet. Kochen sei seine Leidenschaft, sagt der 29-jährige Musiker, sein Können möchte er auch vor einem größeren, fremden Publikum zeigen. Meistens bereitet er mehrgängige japanische Menüs bei sich zu Hause im Londoner Szenestadteil Dalston zu. Es kommen Freunde und Bekannte aus der Londoner Kreativ-Branche, aber zunehmend auch Städtereisende, die, wie er selbst wenn er auf Reisen ist, lieber zu privaten Abendessen gehen – „den Geist der Stadt mitbekommen wollen, anstatt in Touristenrestaurants mit schlechten und teurem Essen abgefertigt zu werden.“
Rote Beete und freie Liebe
Aus manchem Privatrestaurant ist inzwischen schon ein Geschäftsmodell geworden. Die Weinerei in Berlin etwa. Ursprünglich baten zwei Weinhändler zur Degustation in ein Ladenlokal, das mit alten Sofas und Lampen vom Flohmarkt eingerichtet war. Dazu gab es einen großen Topf mit Suppe oder Nudeln. Am Schluss sollte jeder soviel Geld in ein Glas werfen, wie er für angemessen hielt. Auf diese Weise funktioniert das immer noch, nur dass weinerei.com inzwischen drei Filialen und Personal hat, und sich dort immer mehr Reisende einfinden.
Auch Jim Haynes kann sich vor Anfragen kaum retten. Und ohne ausgefeilte Organisation könnte er die Menge an Gästen nicht bewältigen. Freitag einkaufen, Samstag vorbereiten, an den anderen Tagen mit den Gästen mailen. Jede Woche bestimmt er einen Küchenchef. Diesmal steht eine russische Freundin am Herd, die Rote-Beete-Suppe, Hackbraten mit Kartoffelbrei und ein Apfel-Zimtdessert zubereitet hat. In seiner Einladungsmail hat Haynes seine Gäste gebeten, einen alten Briefumschlag mitzubringen, um darin den Beitrag für den Abend zu deponieren. Empfohlen seien 25 Euro, mehr oder weniger sei aber okay. „Wir wollen niemanden ausschließen“. Geld verdiene er nur an seinen Büchern: seiner Autobiographie, Freie-Liebe-Literatur und die Reiseführer. Am besten gehe das Kochbuch: „How to throw a big Party“. Jeden Sonntag verkauft er bis zu zehn Stück.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.