Ich, Du und alle, die wir kannten

Gruppenbilder Fotografin Nan Goldin zeigt wieder Bilder in Berlin. Ihr Stil ist durch das Internet heute demokratisiert, an emotionaler Kraft haben die Fotos deswegen nichts verloren

Postlagernd kommt die Fracht, die neue Ausstellung von Nan Goldin, in Berlin an. Ihr Titel, Poste Restante, spielt sowohl auf den Schauplatz der Ausstellung, das ehemalige Postfuhramt in Mitte, wo die Galerie c/o Berlin zu Hause ist, als auch auf die Beziehung der Fotografin zur Stadt an. 1991 verbrachte die Amerikanerin auf Einladung des DAAD ein Jahr in Berlin. Sie kam wiederholt zurück, mit neuen Arbeiten im Gepäck. In der Berliner Nationalgalerie wurde 1994 erstmals ihre Diashow The Ballade of Sexual Dependency präsentiert, die sich motivisch bei Brechts Dreigroschenoper bedient. Diese monumentale Installation nimmt jetzt den größten Raum im ersten Obergeschoss des Gebäudes ein. Aus Hunderten von Einzelbildern verdichtet sich der Alltag der Fotografin und der ihrer Freunde in den siebziger und achtziger Jahren zu einem elliptischen Zeitporträt. Kinder, Frauen, Männer; fragile Körper in intimen Positionen, im Bett, in der Badewanne oder auf dem Klo aufgenommen. Einander zu- oder abgewandt. Ihr Blick richtet sich frontal in die Kamera. Sie starren einen an oder sind mit sich selbst beschäftigt. Eingängige Rock- und Popsongs bilden den Soundtrack, der im Voice-over wie ein auktorialer Erzähler fungiert. Die Lyrik der Songtexte definiert das Sujet. Sie reanimieren den Gestus auf den Fotos, setzen ihn zu thematischen Clustern zusammen, die in einer filmischen Erzählform ineinander übergehen.

Selbst im Drogenentzug

Goldin arrangiert diese Bildfolge immer wieder neu, passt sie der veränderten Umgebung der Ausstellung an. Fotos verstorbener Freunde, von denen die Angehörigen nicht mehr möchten, dass sie zu sehen sind, werden entfernt. Die Akteure entscheiden, ob sie in die Öffentlichkeit treten oder nicht, darauf legte die Künstlerin immer Wert. Seltsam, dass einem als Erstes auffällt, wie mager ihre Körper damals waren. Der Mangel an Fülle ließ sich nicht darauf zurückführen, dass sie sich wie die gegenwärtig unter Beschuss stehenden Magermodels auf den Laufstegen oder in den Illustrierten von Salatblättern oder mit Flüssigkeit getränkten Wattebauschen ernährt hätten. Die 1953 geborene Fotografin dokumentierte in den intimen Bildern, die nie entblößen wollen, das Leben ihrer Freunde, ihrer frei gewählten Familie. Sie lebten im Exzess, mit Rauschmitteln, Krankheiten und Gewalt; in New York, London oder Berlin. Goldin selbst ging 1988 in den Drogenentzug. Einige ihrer Freunde starben an Aids.

30 Jahre lassen sich die Fotos teils zurückdatieren. Goldins offensive Bildsprache wirkt inzwischen vertraut, von der Imitation anderer verbraucht. Sie war stilbildend für den Heroin Chic der Neunziger, der die Gosse im Glamour des Geschäfts schockfrostete. Spitze Knochen, strähniges Haar und gelangweilte Posen waren das neue Schönheitsideal. Knabenhafte Models wie Kate Moss profitierten in Werbekampagnen oder Fotostrecken der Magazine vom Zeitgeist. Künstler folgten ihnen. Tracey Emin, Juergen Teller und andere. Nicht nur in der Warenwelt, auch im musealen Ambiente diktierten kalkulierter Exzess und der Terror der Intimität den Marktwert. Künstler stülpten ihren Hausstand und ihr Innerstes nach außen. Ihre Installationen wurden hoch gehandelt. In die sauber gekehrten Museen zog der Geruch gebrauchter Laken, benutzter Kondome und leerer Alkoholflaschen ein.

Akkumulation statt Singularität

Das Internet und der einfache Zugang zu den visuellen Medien haben diesen Drang zur Nabelschau demokratisiert. Jeder ist ein Selbstdarsteller – wenn er sich traut. Nicht nur auf Youtube editieren verhinderte Künstler zum Soundtrack ihres Lebens ein öffentliches Poesiealbum immer neuer Schnappschüssen. Goldins Arbeiten entziehen sich der potenzierten Eitelkeit, die bar jeder Position um ihrer selbst willen ins (oftmals rechte) Licht strebt. Die Fotografin blättert vordergründig in ihrem Familienalbum. Sie verdichtet singuläre Bilder von Bezugspersonen zu Formationen eines privaten und gesellschaftlichen Gefühls. „Viel stärker als andere Fotografen glaube ich nicht so sehr ans Einzelporträt, sonder eher an die Akkumulation von Porträts als Repräsentation einer Person“, schreibt sie 1996 in ihrem Buch I’ll Be Your Mirror.

In ihrem Selbstporträt Inside/Outside, der gitterförmig angeordneten Fotocollage im Flur des Postfuhramtes, stellt sie schonungslos die Spuren der Gewalt in ihrem Gesicht und am Körper zur Schau, die ihr Partner hinterlassen hatte. Ein Missbrauch, der in radikaler Intimität wie auf einem Polizeifoto dokumentiert ist. In den achtziger Jahren, als Gewalt gegen Frauen wie ein Kavaliersdelikt behandelt wurde, durchbrachen diese Fotos eine Mauer des Schweigens. Sie hielten im Ambiente des Kunstbetriebs der Außenwelt den Spiegel vor: Seht her, mir passiert das. Und anderen Frauen auch. Empathie prägt Goldins Werk. Sie betreibt keine Feldforschung in einer ihr fremden Subkultur, wie etwa im Fall der jetzt auch in Berlin präsenten Slide Show über Drag Queens (The Other Side). Sie ist Teil des Milieus, und sie strukturiert ihr fotografisches Werk entlang der eigenen Lebenslinie und der ihrer Freunde.

Ihre Fotos bewegen, auch heute noch, nach fast 30 Jahren. Die Installation Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit konserviert die Essenz der Verweigerung und Grenzüberschreitung wie in einem Mausoleum verblichener Tabus. Die Wahrnehmung der Arbeiten Goldins unterliegt aber zugleich dem Wandel des tolerierten Privaten in der Öffentlichkeit. Was früher verschwiegen oder beiseite geschoben wurde, gehört dieser Tage zur Überdosis menschlicher Nähe und Entblößung, die Sodbrennen verursachen kann. Das Kreisen ums Ich, das Goldin mit Fotos aus Kindertagen bis in die Gegenwart in All By Myself zu den Klängen des gleichnamigen Ohrwurms der Interpretin Eartha Kitt kraftvoll zelebriert, weckte im Postfuhramt in Berlin auf jeden Fall Fluchtinstinkte.


Bis zum 6. Dezember in der Galerie C/O Berlin im ehemaligen Postfuhramt Berlin Oranienburger Straße 35/36, täglich von 11 bis 20 Uhr

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden