Oberhausen ist nichts für Feiglinge. Wer von der Angst getrieben wird, etwas zu verpassen, kapituliert vor 466 Filmen in fünf Wettbewerben und Sonderprogrammen. Als Flaneur streift man dagegen lustvoll durch eine polyfone Kurzfilmlandschaft, auf der in diesem Jahr viele Tiere grasten. Tiere sind im Trend, so viel lässt sich sagen. Ob als verweigerte Kost durch den Vegetarier, der sich durch Jonathan Safran Foers Buch Tiere essen als Hipster entpuppt hat, weil er wie auch Karen Duve „anständig essen“ will. Oder in Fleischform genussvoll von dessen Antipoden mit Rezepten aus Beef, dem Magazin für Männer mit Geschmack, auf dem Grill zubereitet.
Und jetzt eben als diskursiver Schwerpunkt auf den 57. Kurzfilmtagen in Oberhausen in der Themenreihe Das Kino der Tiere. Der Trailer des Festivals stimmte mit vielstimmigem Bellen und Heulen vor farbigem Testbild ein. Täglich schlugen Autor Cord Riechelmann und Filmemacher sowie Kurator Marcel Schwierin die Kapitel ihres Programms mit über 90 wissenschaftlichen und künstlerischen Filmen auf.
Der älteste Film war datiert auf 1892-95, Etienne-Jules Mareys und Georges Demenys Oiseau (Bird), eine Bewegungsstudie von Vögeln, die in verschiedenen Formaten gefilmt wurden. Der jüngste stammte aus dem Jahre 2010, Romuald Karmakars Esel mit Schnee, ein kontemplativer Moment mit dem Titel gebenden Tier vor seinem Stall in winterlicher Landschaft. Karmakars Film gehörte zum Programm Shooting Animals, in dem es nicht um das Tier vor der Flinte des Jägers, sondern um dessen Position vor der Kamera ging, wobei Ähnlichkeiten nicht ausgeschlossen waren. Der Esel in Karmakars Film wird von der Kamera aus einiger Distanz ins Visier genommen, bis das Tier sich ihrer vergewissert hat und langsam auf sie hinbewegt. Auch Schnalzen aus dem Hintergrund ruft keine Regungen in ihm hervor, der Esel starrt und wendet sich ab.
Schlafende Katze
In ein deutlich engeres filmästhetisches Korsett schnürt William Wegman in Calling Man Ray (1974) ein Tier. Hier sitzen ein Mann und eine Frau links und rechts mit dem Rücken zur Kamera und im geringen Abstand vor dem mittig platzierten Hund Man Ray. Sie rufen ihn wechselseitig beim Namen, um seine Aufmerksamkeit konkurrierend und zunehmend drängender. Wie bei einem Pingpong-Spiel wendet sich der Hund bei jedem Anruf ruckartig der jeweiligen Bezugsperson zu, bis er wie eingefroren die Mitte fixiert.
Eine Installation von Christoph Keller wiederum, die 2001 in Berlin auf 40 Bildschirmen zu sehen war, weitet den Blick aufs Tier und zeigt in künstlerischer Bearbeitung 40 Bewegungsstudien aus der Encyclopaedia Cinematographica, einem Nachschlagewerk der Motorik, an dem in den fünfziger Jahren Forscher wie Konrad Lorenz mitgearbeitet haben. Lautlos lief der Einminüter im Loop, während das Publikum zu den jeweiligen Vorstellungen nahm, und markierte – neben dem unerkannten Bellen und Heulen im Trailer – den Rahmen dessen, was Riechelmann und Schwierin als „existenzielle Verbindung“ zwischen Kino und Tieren bezeichnen: bewegen und lebendig machen.
Auch von dem Titel einer weiteren Reihe im Themenprogramm hätte man sich täuschen lassen können: About Love wählte nicht die Perspektive des romantisierenden Tierfilms, sondern ging den bizarren Formen der Liebe zum Haustier nach und räumte nebenbei mit dem Stereotyp von der Eigenwilligkeit der Katze auf. In dem französischen Film Le Chat qui dort (The Sleeping Cat, 1992) von Joel Bartoloméo setzt ein Mädchen seiner Katze in einem krassen Mutter-Kind-Spiel zu; das Tier lässt das Schlagen, Knuffen, Schütteln über sich ergehen, ohne die Krallen zu zeigen. Dagegen tragen die Menschen in Irenäus Eibl-Eibesfeldts ethnologischer Studie Eipo (West-Neuguinea, Zentrales Hochland) – Umgang mit Schweinen (1975) ihre Hausschweine behutsam auf dem Arm, während diese kräftig mit dem Schwänzchen wedeln. Sie schmusen mit ihnen und teilen mit den Tieren gar die Hütte. Eher verstörend wirkte die überbordende Tieraffinität der Kasachin Nina in Pro lyubov (About Love) von 2005, die über 100 verwahrlosten Hunden in ihrer Wohnung Asyl bot und sich zwischen wuselnden, hektisch nach Essen gierenden und bellenden Tieren melancholisch ihren Weg bahnte.
Weiser Kater
Die Kurzfilmtage in Oberhausen werden vorwiegend von angereisten Regisseuren und Fachbesuchern frequentiert, die im „Humus“ , wie der Leiter der Kurzfilmtage, Lars Henrik Gass, die 141 Kurzfilme in den Wettbewerben bezeichnete, nach Perlen für den Film- und Kunstmarkt wühlen. Überforderung ist hier Prinzip, und das war das Thema der Eröffnungsrede von Gass. Als Ausgangspunkt eine voll gestopfte Buchhandlung in Berlin, in der man einst Interessantes ohne Leitfaden selbst entdecken musste und die längst das Zeitliche gesegnet hat. Ebenso erfülle Filmkultur keine Erwartungen, wie in der deutschen Fernsehfilmindustrie gefordert, sondern, so Gass, ermögliche Erfahrungen.
Für eine ästhetische Herausforderung jenseits der Fernsehformate steht die heranwachsende einheimische Klientel vor der Lichtburg Schlange: Mehr als 2.000 Schülerinnen und Schüler aus Oberhausen besuchen das Kinder- und Jugendkino während der Kurzfilmtage. Das Kino der Tiere dehnte sich auch hier aus, unter anderem mit dem exzellent bestückten Musikvideoprogramm Animal Grooves, in dem der Regisseur Spike Jonze in Triumph of a Heart der Künstlerin Björk einen Kater als aufmerksamen Lebenspartner an die Seite stellte, was endlich mal zum Lachen war, und Hunde in Birds (Vitalic) von Pleix zu elektronischen Beats in Zeitlupe mit wehendem Haar durch die Luft schwebten.
In die filmästhetische Erziehung der Jüngsten investiert das Projekt „Kinder haben die Wahl“, indem es seine Zielgruppe ab sechs Jahren ernst nimmt und bestimmen lässt, was sie sehen will. Begleitet von einer Filmvermittlerin und einer Regisseurin sichtete eine Schulklasse in Oberhausen eine Woche lang Experimentalfilme und wählte sieben davon aus, die als „knallbuntes Kinochaos mit fliegenden Fischen“ dem Publikum präsentiert wurden. Die Kinder bevorzugten Filme, die lustig waren, aber zugleich verspielt animierte Lautgedichte mit hintergründigen Kommentaren zum Zeit- und Kunstgeschehen verbanden.
Auch Poetry-Clips, die im Rahmen des Workshops „Filmkunst trifft Schule“ entstanden, zeigen deutlich, wie aufgeschlossen Heranwachsende für visuelle und narrative Experimente jenseits der Standardkost Fernsehkino sind.
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