Die Schachtel

Kehrseite II Der Morgen kam ihr nicht entgegen. Wie in Blei gefasst war sie. Der Schlafzimmerschrank starrte sie ununterbrochen an. Sie vernahm nichts. ...

Der Morgen kam ihr nicht entgegen. Wie in Blei gefasst war sie. Der Schlafzimmerschrank starrte sie ununterbrochen an. Sie vernahm nichts.

Nur den Krach eines Müllabfuhrautos. Sie wartete auf ein Gefühl. Endlich stand sie auf. Alles tat sie verschleppt. Das Waschen. Das Anziehen. Die Nacktheit vor dem Spiegel kränkte sie. Eine Ungeheuerlichkeit blickte ihr entgegen. Die Strumpfhose sollte sie eigentlich wechseln. Das ersparte sie sich. Aus dem Unterhemd rieselten Hautschuppen. Nach dem Frühstück konnte sie keine Belebung erkennen. Ohne Zielvorgabe lief sie durch die Zweizimmerwohnung. Es fehlte ihr ein Einfall. Oder mehrere. Für den Tag. Freilich, überlegte sie. Es bestand Grund zur Freude. Sie war in den Hafen der Ruhe eingekehrt. Wenn auch zwangsläufig und vorzeitig. Die Agentur für Arbeit hatte ihr mit der Achtundfünfziger-Regelung das herzliche Angebot gemacht, sich mit dem Paragraphen vierhundertachtundzwanzig für immer in ihre Zweizimmerwohnung zurückziehen zu dürfen. Wenn das kein Grund zur Freude war. Sie wollte auf keinen Fall undankbar erscheinen. Es half vielleicht, sich an glückliche Stunden zu erinnern. An den Tag beispielsweise, da sie die Agentur zum Paragraphen Vierhundertachtundzwanzig beglückwünschte. Und sie sich im selben Atemzuge das Parfüm OPIUM gekauft hatte. Sie blickte auf das Haus gegenüber. So gut wie nie sah sie Personen in den Fenstern. Allein sichtbar war eine akkurate Gardinenanordnung. Als ihr gar nichts glücken wollte an diesem Tag, entnahm sie der Anrichte eine kostbare Schachtel Pralinen. Etwas Aufgespartes. Etwas ganz Besonderes.

Die Schachtel glänzte leuchtend rot. Mit goldener Schrift. Innen feinstens ausgekleidet. Sie besah sich die Darstellungen der Pralinen auf der Rückseite der Schachtel. Die ausführlichen Beschreibungen dazu. Dann öffnete sie die Schachtel. Legte die durchsichtige, goldverzierte Folie beiseite. Und die ebenfalls goldverzierte, weiche Lage. Entschied sich für eine Sahne-Butter-Trüffel-Praline. Schob sie sich in den Mund. Schloss die Augen. Und gab sich der Praline hin.

Nach dem Genuss wollte sie die Schachtel wieder in die Anrichte legen. Beschloss aber, nicht an der falschen Stelle kleinlich zu sein. Sie aß eine zweite und eine dritte Praline.

Nicht ohne zuvor die Darstellung auf der Rückseite studiert zu haben. Sie aß die ganze Schachtel auf. Hierbei wurden ihre Bewegungen nur geringfügig fahriger. Jedenfalls kaum merklich. Sie zelebrierte das Verspeisen der Schachtel. Die Feierlichkeit der Schachtel übertrug sich auf ihre Person. Danach war der Zauber verbraucht. Doch sie war willens, sich einer zweiten Schachtel zuzuwenden. Es war eine Schachtel für alle Tage. Keine besondere. Eher preiswert. Das prunkvolle Äußere war hier zurückgenommen. Auf der Rückseite gab es auch keine Darstellung der Pralinen. Sie sah nicht ein, weswegen sie dieser Schachtel mit der gleichen Ehrfurcht begegnen sollte. Sie war im Vorübergehen aufzuessen. Das tat sie. Die Pralinen schmeckten schärfer. Sie besaßen nicht jene wunderbare Geschmacksentfaltung. Insgesamt hatte sich ihre Gemütslage aufgebessert.

Ihr fiel noch eine Bitterschokolade in die Hände. Von einer unbedeutenden Firma. Diese aß sie nur halb auf. Sie konnte sich beherrschen. Und ließ die angebissene Hälfte auf dem Tisch liegen. Auf dem sonst nichts lag. Dann saß sie da. Im halben Rausch. Weiteren Hunger beherrschte sie. Genau genommen saß sie wie ein hungriger Wolf am Tisch. Trotzdem wollte sie hier einen Schlussstrich ziehen. Abschließend nahm sie sich eine angebrochene Packung Butterspritzringe vor, deren Verfallsdatum schon überschritten war. Die Butterspritzringe schmeckten ihr nicht mehr. Die Abfälle ließ sie auf dem Tisch liegen. Endlich kamen ihr Einfälle, was sie morgen alles bewerkstelligen würde. Der heutige Tag war sowieso im Eimer.

Eine leichte Übelkeit machte sich breit. Sonst ging es ihr den Umständen entsprechend. Sie nahm die rote Schachtel. Warf sie in die Anrichte. Brachte sich von dort Salzzeug mit. Und beschloss, einen Fernsehtag einzulegen. Mit dem Salzzeug machte sie es sich im Sessel gemütlich. Eilte noch einmal flink ins Bad. Kam mit OPIUM zurück. Versprühte es vor ihrem Sessel. Zur Erinnerung an ein Glück. Und schaltete das Fernsehgerät ein.

Ulrike Metsk, 1947 in Potsdam geboren, studierte Theologie und besuchte die Schauspielschule. Sie ist Puppenspielerin und lebt in Bautzen.


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