Zimmer 205

Kehrseite II Ich sitze in einem gläsernen Warteraum in Gesellschaft leerer Stühle. Eine Angestellte verharrt hinter der Theke. Draußen herrscht Schneefall. Ich ...

Ich sitze in einem gläsernen Warteraum in Gesellschaft leerer Stühle. Eine Angestellte verharrt hinter der Theke. Draußen herrscht Schneefall. Ich bin stolz auf meine neuen Stiefel. Obwohl ich nicht mehr so querfeldein laufen kann, habe ich mir dieses robuste Schuhwerk gekauft. Die Stiefel sind wahre Bollwerke, sie schützen eine Frau meines Alters in jeder Hinsicht. Ich sage zu der Angestellten: "Meine Stiefel sind kräftiger als ich, mit ihnen täusche ich etwas vor, was ich nicht bin." Die Angestellte reagiert nicht, sie hat zu tun. Ich muss mich innerlich auf die bevorstehende Rücksprache in Zimmer 205, 1. Etage vorbereiten. Häufig lässt bei mir die Konzentration nach, die Gedanken gehen spazieren. In der Regel denke ich an alles Mögliche. Das hat mir schon manchmal persönlich geschadet. Da komme ich auf die Agentur für Arbeit zu sprechen.

Ich betrat das Zimmer, begann über meine Arbeitslosigkeit zu reden, verhedderte mich dabei, der Vermittler zeigte seine Zähne, fiel über mich her und verwandelte mich in einen kläglichen Haufen. Dieser Vorfall ist fast vergessen. Der Schneefall stört mich jetzt direkt. Ich muss mich beruhigen.

Meine Stiefel sind braun. Das ist ihr einziger Makel. Manchmal mache ich an Braunes Annäherungsversuche. Begeistert kaufe ich mir einen braunen Pullover. Der Einkauf ist erst einmal geglückt. Kehrt der Alltag ein, das Stück kommt zum Tragen, geht das nicht einmal einen Tag lang gut. Der Pullover kommt in den An- und Verkauf, finanziell mache ich dabei Minus.

Der Schneefall draußen ist so geblieben, wie er war. Andererseits gab es damals ein bestimmtes DDR-Braun. In HO-Gaststätten die Tischdecken und Sitzpolster. Herrenanzüge und Sitzmöbelgarnituren bedienten sich vielfach der braunen Farbe. Vor allem die Bräune der Tischdecken ist unvergessen. Es war die Farbe der eingehegten Sehnsucht. Sie duftete nach Kaffee. Unsere Gedanken flogen zu fernen Kaffeeinseln. Stieg der Dampf aus einer Tasse Kaffee auf, sah manch einer den Rauch eines winzigen Indianerfeuers vor sich. Traumlos sind wir nicht gewesen. Die Präsent-20-Herrenanzüge sind eher schiefgegangen.

Vor kurzem habe ich erfahren, meine Stiefel gab es auch in Schwarz zu kaufen. Den Ärger schlucke ich runter. So kreisen meine Gedanken. Ich wünsche mir, dass es sich manchmal um höhere Kreise handelte. Man ruft mich auf. Mit der Bedienungsanleitung des Lifts komme ich nicht zurecht. Die Angestellte eilt zu Hilfe.

Da mir Zimmer 205 eine unerwartet niedrige Rente für die Zukunft zusagt, werde ich mir ab sofort nur noch das Geringste leisten können. Trotzdem entschließe ich mich zu einer Tasse Kaffe im ehemaligen Exquisit. Die Stiefel rutschen geringfügig im Schnee, beinahe gleite ich aus. Mit heiler Haut erreiche ich das Exquisit. Neben der Kuchentheke mache ich es mir bequem. Von hier aus kann ich das Schneetreiben verfolgen. Dem Fräulein am Kuchenbüffet sehe ich bei der Arbeit zu. Sie putzt die gläsernen Scheiben. Ich genieße meine Tasse Kaffee. Der Duft steigt empor und vermählt sich mit dem Duft des Fensterputzmittels.

Ulrike Metsk, 1947 in Potsdam geboren. Theologiestudium / Schauspielschule. Puppenspielerin. Lebt in Bautzen.


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