Als ich jüngst davon las, dass der britische Puffin-Verlag beschlossen hat, eine überarbeitete Fassung der Kinderbücher von Roald Dahl herauszugeben, war ich entsetzt. Jetzt also auch Roald Dahl. Für mich war das in dem Moment ein weiterer Gipfel einer viel diskutierten Entwicklung der vergangenen Jahre, die nicht nur die Bücher von Otfried Preußler und Astrid Lindgren betroffen hat. Eine der grundsätzlichen Hauptfragen geht mich als Schriftstellerin dabei besonders an: Haben wir das Recht, literarische Texte im Nachhinein, ohne die Zustimmung ihrer Schöpfer*innen, zu verändern? Sind Kinder nicht in der Lage, kritisch zu lesen und Zusammenhänge eigenständig zu verstehen und zu hinterfragen oder müssen sie wirklich durch ein derart
Roald Dahl und die Cancel-Debatte: Packt die Kinder nur nicht in Watte!
Meinung Roald Dahl ist als Autor bekannt für rhetorische Zuspitzungen und kreative Schimpfwörter. Jetzt sollen seine Romane überarbeitet werden. Dabei können junge Leser:innen seine Drastik durchaus kritisch einordnen, findet unsere Autorin

Roald Dahl war Spezialist für herrliche Schimpfworte: Du hohlköpfiger Hamster! Klotzköpfiger Klebeklumpen!
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artiges Eingreifen geschützt werden?Ich bin Mutter von drei Söhnen, ich unterrichte seit vielen Jahren „Kreatives Schreiben“ für Kinder und Jugendliche. Wir erfinden gemeinsam Geschichten, verfassen Texte, diskutieren, träumen, fantasieren. Ich habe bislang mit Kindern und Jugendlichen aus allen Schulformen, mit Inklusionsgruppen, Downsyndrom-Kindern und mit Lehrlingen gearbeitet, und ich kann mit voller Überzeugung sagen, dass mindestens 80 Prozent dieser jungen Menschen das Fantastische, Übertriebene, Grenzüberschreitende, auch Bedrohliche lieben. Sie brauchen es. Sie fordern es ein und es fordert sie heraus.Roald Dahls Romane arbeiten offensichtlich mit den rhetorischen Mitteln der Übertreibung und Verzerrung. Es sind Texte, die dabei schöpferisch, lustig und auf unverwechselbare Art und Weise mit Sprache umgehen. Was für herrliche Schimpfwörter legte Dahl zum Beispiel in den Mund der tyrannischen Schuldirektorin Knüppelkuh in dem Roman Matilda, mit dem der Schriftsteller eine der fantastischsten Mädchenfiguren der Kinder- und Jugendliteratur überhaupt geschaffen hat: Du unglaublich unwissendes Unkraut! Du schleimschlierige Schnecke! Du hohlköpfiger Hamster! Du klotzköpfiger Klebklumpen! Kinder lieben solche Stellen. Sie freuen sich diebisch, wenn sie sie lesen.Roald Dahl bietet tröstende ErmächtigungDahls Kinderromane sind Texte, die, wie Märchen, einen entschiedenen Trennungsstrich zwischen Gut und Böse ziehen. Texte, die immer wieder den schlussendlich erfolgreichen Behauptungskampf der Kleinen, Schwachen, auf den ersten Blick und strukturell Unterlegenen, nämlich der Kinder, gegen die Mächtigen, Bösen, Überlegenen schildern, seien es niederträchtige Eltern, grausame Lehrer*innen oder Dämonen und Ungeheuer wie zum Beispiel Dahls berühmt-berüchtigte Hexen. In dieser Eigenschaft stellen die Kinderromane des Schriftstellers auch liebevolle, tröstende und ermutigende Ermächtigungsgeschichten dar, die immer mit einem Happy End schließen, was aus meiner Sicht entscheidend für ihren wesentlichen und heilsamen Charakter ist.Auch die Bedeutung von Märchen für Kinder wird immer wieder diskutiert und infrage gestellt. Ich persönlich halte sie für essenziell, vor allem, weil Geschichten, in denen es um existenzielle Ängste und Bedrohungen geht, den Kindern auch bei der Bewältigung dieser Ängste und Bedrohungen in ihrem wirklichen (Gefühls-)Leben helfen. Dahls Kinderromane thematisieren negative Gefühle – Eifersucht und Konkurrenz unter Geschwistern, die Ablösung von den Eltern, die Furcht vor dem Tod et cetera –, und sie bieten gleichzeitig gut nachvollziehbare Lösungen für die Überwindung dieser emotionalen Notsituationen an: In Matilda helfen der Protagonistin und ihren Freund*innen nicht nur die außergewöhnliche Klugheit und Begabung Matildas, sondern auch ihr Gerechtigkeitssinn, ihre Ehrlichkeit und ihr Mut, für andere einzustehen. In Hexen hexen ist es die außergewöhnliche Liebe und Solidarität zwischen dem achtjährigen Ich-Erzähler und seiner eigentümlichen Großmutter, durch die sie ihre Feinde, die Hexen, besiegen. In den Trottels führt der schlaue Zusammenhalt von Vögeln und Affen, die von dem bösartigen Ehepaar, Mr und Miss Trottel, unterdrückt und misshandelt werden, dazu, dass die Tiere sich am Ende befreien und das Ehepaar jämmerlich zugrunde geht … – die Liste ist lang.Placeholder infobox-1Die zentrale Bedeutung von Märchen und eben auch von Dahls Texten liegt nicht in der Belehrung darüber, was richtige Verhaltensweisen sind oder sein könnten und offensichtlich auch nicht in irgendeiner Form eines Anspruches an realistische Überzeugungskraft, sondern in ihrer Thematisierung von inneren Konflikten, mit denen alle Kinder konfrontiert sind, und in der Vermittlung dessen, dass es möglich ist, sich gegen Autoritäten aufzulehnen, sich von ihnen zu lösen und unabhängig zu machen. Diese Erkenntnis, dieses Verstehen und Erleben wären nur halb so bestärkend, wenn die vorher geschilderten unterdrückenden Zustände nur halb so oder gar nicht furchtbar wären.Nun mag man einwenden, dass es bei den Änderungen nicht um die gravierende Veränderung ihres wesentlichen Gehalts geht, sondern „nur“ um die Entfernung von Ausdrücken und Formulierungen, die junge Leser*innen vor kulturellen, ethnischen und geschlechtsspezifischen Stereotypen schützen soll. Für mich stellt sich diesbezüglich die dringliche Frage, wie viel Fähigkeit zum eigenständigen und kritischen Denken wir jungen Leser*innen noch zutrauen.Zudem finde ich persönlich, dass man, wenn man Dahls Stil in seiner Drastik und seinen Übertreibungen einschränkt und mit unpassendem Realismus beschwert – die Adjektive „fett“ und „hässlich“ wurden beispielsweise aus seinen Texten gestrichen, furchterregende Traktoren dürfen nicht mehr „schwarz“ sein, und die Tatsache, dass die Hexen in Hexen hexen Perücken tragen, weil sie kahl sind, wurde erklärend mit einer Passage versehen, in der es heißt, Frauen würden aus vielen verschiedenen Gründen Perücken tragen, daran gebe es nichts auszusetzen –, beginnt, an seinem grundlegenden Charakter zu feilen. Übrigens, die Hexen bei Dahl sind in Wahrheit gar keine Frauen, sondern Dämonen, die wie Frauen aussehen, das macht die Sache noch komplizierter und komplexer.In meinen Kursen für „Kreatives Schreiben“ erlebe ich über all die Jahre hinweg immer wieder das Gleiche: Die Kinder und Jugendlichen, mit denen ich arbeite, sind so darauf getrimmt, Regeln zu befolgen und sich an Maßgaben zu halten, dass sie mich am Anfang mit lauter „Darf ich …?“- und „Sollen wir …?“-Fragen überhäufen. Darf ich auch etwas zu dem Text malen? Darf ich Schimpfwörter verwenden? Wie viele Wörter sollen wir schreiben? Dürfen wir uns Wörter ausdenken? Ich antworte dann auf jede Frage immer und immer wieder: Du darfst alles, was du willst, und du sollst gar nichtsWie moralisch soll Kunst sein?Ich erzähle den Kindern auch von künstlerischer Freiheit. Dieser Moment ist regelmäßig ein besonderer Moment: der Moment, in dem die Kinder und Jugendlichen begreifen, dass sie bei mir alle (Sprach-)Fantasien ausleben dürfen, die sie wollen – die kühnen, die verwerflichen, die verletzlichen und die absurden. Dann flackert und leuchtet es in ihren Augen, sie beugen sich begeistert über die Blätter und beginnen zu schreiben, versinken selbstvergessen in ihre Texte und präsentieren sie später teilweise schüchtern oder platzend vor Stolz und Freude.Natürlich berücksichtige ich auch die Gefühle von Kindern und Jugendlichen, denen es nicht so geht – und denen ich auch in meinen Kursen für „Kreatives Schreiben“ begegne. Selbstverständlich gehe ich auf ihre Bedürfnisse und Empfindungen ebenso ein. Eine gute Lösung für die unterschiedlichen Wesensarten und Interessen von Kindern ist aber aus meiner Sicht nicht eine grundsätzliche Vermeidung und Tabuisierung von möglicherweise kritischen Textpassagen, sondern immer das Angebot einer möglichst großen Vielfalt, verbunden mit der Möglichkeit, klar und deutlich zu sagen: Das will ich nicht lesen. Denn selbstverständlich sollte jedem Kind und jedem Menschen immer die Entscheidung freigestellt sein, ob es sich mit bestimmten Texten befassen möchte oder nicht. Diese Texte aber – und dann auch noch, wie im Falle Dahls, im Nachhinein und ohne die Zustimmung des eigentlichen Verfassers – so zu verändern, dass es gar nicht erst zu möglichen und hypothetischen Reaktionen der Ablehnung kommt, erscheint mir kein guter Weg zu sein.Hinter den Debatten um Roald Dahls Bücher und anderen, scheinbar nicht mehr zeitgemäßen Texten, steht offensichtlich die alte Frage, wie moralisch Kunst sein soll. Es scheint mir einerseits unmöglich und auch nicht erstrebenswert, Kunst im moralfreien Raum zu schaffen. Kunst muss sich andererseits unbedingt frei fühlen können, ebenso der Lesende, Schauende, Hörende. Zum Lernen sind die Schulen da, zum Erleben die Kunst. Im besten Fall kann beides gleichzeitig stattfinden. Und wenn die Künste und die Literatur in uns, den Kindern dieser Welt, kathartische, ja reinigende Gefühle erzeugen wollen, muss sich in ihrem Handwerkszeug auch der Zugriff auf das Bedrohliche, das Extreme, das Dunkle und Böse befinden dürfen.Die Prinzipien von Sensitivity Readers, mit denen Verlage in den letzten Jahren zunehmend zusammenarbeiten, finde ich prinzipiell wichtig und richtig: Es geht ja nicht vorrangig darum, kontroverse Inhalte auszuschließen oder zu tabuisieren, sondern darum, Authentizität und inklusive Stimmen in Texten miteinfließen zu lassen. Bleiben wir bitte dabei. Das wünsche ich mir. Der Puffin-Verlag hat mittlerweile beschlossen, die Kinderromane Roald Dahls künftig in zwei verschiedenen Versionen zu publizieren: in der Originalausgabe und in der politisch korrekten Fassung. Ich halte das für eine gute Entscheidung.Placeholder authorbio-1