Das Gift der Zersetzung

Stasi-Outings Weshalb wir mit Stasi-Outings auch 18 Jahre nach der Wende nicht umgehen können

Und ewig grüßt das Murmeltier: Die Debatte um die beiden Stasi-Outings in der Berliner Zeitung und den Fall des "IM Schubert" in Zwickau wirken in ihren reflexhaften Affekten wie ein Déjà-vu, ein untoter Wiedergänger der frühen neunziger Jahre. 18 Jahre nach der Wende scheinen wir nicht wesentlich weiter gekommen zu sein mit der Frage, wie man mit Widersprüchen, Abgründen, mit Menschen als fehlbaren Protagonisten einer komplizierten Geschichte umgeht.

Das Auftauchen einer belastenden Akte bedeutete nach der Wende fast immer das unmittelbare berufliche und gesellschaftliche Aus für die Involvierten - umstands- und weitgehend fraglos. Quälende, vielleicht für alle Seiten schmerzhafte Auseinandersetzungen waren nicht erwünscht. Auch in aktuellen Leserbriefen an die Berliner Zeitung ist von Abscheu, Enttäuschung, Empörung und der Forderung nach sofortiger Entlassung die Rede. Es gibt in diesen Briefen sehr viele Punkte und Ausrufezeichen. Fragezeichen kommen seltener vor.

Dass wir keinen Schritt weiter sind, dass die emotionale Aufgeladenheit so verblüffend an die neunziger Jahre erinnert, offenbart eine Leerstelle: Sie ist ein Hinweis auf etwas, das nicht stattgefunden hat. Deutlich wird, wie notwendig in den Jahren nach der Wende eine offene Debatte, ein Selbstklärungsprozess der ostdeutschen Gesellschaft gewesen wäre - unaufgeregt, ehrlich, frei von Klischees. Wer wirklich wissen will, muss Fragen stellen und den Antworten zuhören können. Zu erfahren und zu lernen, wäre viel: über individuelle Geschichten, Motive und Methoden, über Korruption und Erpressung, über Mechanismen der Macht, Verstrickung und Mitläufertum, über Möglichkeiten zivilen Ungehorsams. Und dabei geht es nicht nur um Vergangenheit: Wie und von wem können unsere Kinder lernen, eine offene Auseinandersetzung zu führen, keine Angst vor der Angst zu haben, gesundes Misstrauen gegenüber selbsternannten Autoritäten zu bewahren, Manipulation und Repression zu durchschauen, seinem Gewissen zu folgen, zivilen Widerstand zu leisten, wo es notwendig ist? Fehler einzugestehen? Wie lernt man heute Zivilcourage?

Erschreckend wirkt die noch immer ungebrochene Aktengläubigkeit. Allein die Existenz einer Akte war Anfang der Neunziger zur Gretchenfrage geworden. Kaum jemand fragte, was diese Akten tatsächlich erzählten oder gab sich die Mühe, die Wahrheit jenseits der Akten zu erforschen. Mitunter reichte ein Gerücht, um jemanden zum Paria zu machen. Das Gefühl des Ausgeliefertseins angesichts des bloßen Verdachts hat kaum einer eindrucksvoller beschrieben als der Schriftsteller Klaus Schlesinger in seinem Text Das Gerücht. Und Alexander Osang beschrieb die hysterische Fixierung auf die bloße Existenz einer Karteikarte samt der daraufhin einsetzenden Mechanismen in seinem Roman die nachrichten.

Solche nachdenklichen, analysierenden Stimmen blieben leider leise und wurden kaum gehört. Statt eines Mehr an Distanz, die das Bewusstsein für Vielschichtigkeit hätte öffnen können, scheint eine weitere Emotionalisierung eingetreten zu sein. Filme wie Das Leben der Anderen haben diese noch befeuert: Auch für biografisch Unbeteiligte erhielt nun das Böse ein Gesicht, eine Handlung. An die Stelle des wirklichen Geschehens traten Bilder und gefühltes Wissen. Die Illusion des Dabeiseins - nach den Gesetzen des Films auf der guten, der richtigen Seite - senkt die Schwelle zur Vereinfachung, zum fixen moralischen Urteil. Im Schatten der Oscar-preisgekrönten Fiktion nahmen derweil der Hauptdarsteller Ulrich Mühe und seine ehemalige Frau Jenny Gröllmann ihre persönliche Stasi-Tragödie ungeklärt mit in das jeweilige Grab. Dieser Film hätte nicht nur Florian Henckel von Donnersmarck restlos überfordert.

Dort, wo nicht gesprochen oder gefragt wird, spürt man das Gift der "Zersetzung" noch lange nach der Wende, es zerstört Beziehungen, Vertrauen und Seelen. Als hätte die Stasi einen späten, posthumen Sieg davon getragen - und andere die Verwertungsrechte.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden