Kinder, Kinder!

Linksbündig Ist der Osten schuld, dass es immer weniger Nachwuchs gibt?

Je weniger Kinder es in Deutschland gibt, je weniger sie ein selbstverständlicher Teil des Lebens sind, umso schlagzeilentauglicher sind sie als exotische Minderheit. Kinder tauchen in der öffentlichen Wahrnehmung nur noch in sporadischen Erregungssäulen auf: Kindesverwahrlosung und -misshandlung, Kinderarmut und die alarmierende Demografie. So berichtet der Tagesspiegel unter der dramatischen Überschrift Der Osten verabschiedet die Familie über die sinkende Zahl der Familien mit Kindern, vor allem in Ostdeutschland - ein Rückgang um 28Prozent innerhalb von zehn Jahren.

Nicht der Osten verabschiedet die Familie - es ist die bundesrepublikanische Gesellschaft. Bereits der Geburtenknick nach der Wende im Osten war unmissverständlich: Menschen, deren Existenzgrundlage plötzlich im Dunkeln liegt, haben anderes im Kopf, als Nachwuchs in eine ungewisse Zukunft zu setzen. Die Kinder des Ostens werden inzwischen im Westen geboren. Dafür sorgt die massive, bis heute anhaltende Abwanderung der jungen qualifizierten Ostdeutschen und insbesondere der Frauen, die der Arbeit hinterher in den Westen ziehen. Dabei werden die Folgen des Geburtenknicks im Osten erst in einigen Jahren wirklich drastisch: Kinder, die nicht geboren wurden, können später auch keine Familien gründen.

Das ist kein ostspezifisches Thema. In ganz Europa entscheiden sich immer weniger Erwachsene für Kinder. Der eigentliche Skandal besteht auch nicht darin, dass die Sozialsysteme bedroht sind. Sondern darin, dass es in einem der wohlhabendsten Länder den immer weniger werdenden Kindern immer schlechter geht. Kinder sind das Armutsrisiko Nr. 1. Immer mehr Familien sind auf existenzsichernde Transferleistungen angewiesen - in Berlin fast 40 Prozent. Ein Drittel aller Kinder in Deutschland leben in Armut oder hart an deren Grenze.

Kinder großzuziehen, kostet nicht nur Geld, sondern Zeit, Zuwendung und Aufmerksamkeit, was in einer rasant beschleunigten, zunehmend auseinanderdriftenden Arbeits- und Freizeitgesellschaft, rare Güter geworden sind. Wer Kinder hat, weiß, dass er im Grunde gegen eine Gesellschaft lebt, die Effizienz, Flexibilität, Mobilität, Verfügbarkeit fordert, die Individualität und Selbstverwirklichung propagiert und die Kinder als Privatangelegenheit ihrer Eltern betrachtet. Wenn Eltern dem wachsenden Druck nicht standhalten, zerbrechen Beziehungen, fallen Familien aus dem Arbeitszusammenhang und Kinder bekommen nicht nur die existentielle Situation der Eltern zu spüren, sondern auch das gesellschaftliche Desinteresse. Wer das bestreitet, sollte sich in Jugendämtern umsehen, in maroden Schulen mit überalterter und unterbesetzter Lehrerschaft, in prekären Stadtteilen, in denen Kinderbibliotheken und Jugendzentren dem Sparzwang geopfert werden. Der Tierschutz steht im Grundgesetz, der Kinderschutz nicht. Trauscheine honoriert der Staat mit jährlich 19 Milliarden Euro, während der Hartz-IV-Satz für die Ernährung eines Kindes pro Tag 2,57 Euro vorsieht. Selbst das Bildungssystem straft Kinder noch für ihre soziale Herkunft, was man andernorts "Sippenhaft" nennt: Bereits Zehnjährige dürfen sich mit der "Empfehlung" Hauptschule ihre Zukunft im Prekariat bescheinigen lassen.

Man kann natürlich weiter - je nach aktuellem Anlass - über Elternkontrollen debattieren, über private Sicherheitsfirmen an Schulen und Amoklauf-Früherkennung, über jugendliche Hilfsspione, Ballerspiele und Mangel an qualifiziertem Nachwuchs. Man kann die "Werte"-Debatte den Eva Hermans und Frank Schirrmachers überlassen, um den prekären Rest darf sich die RTL-Supernanny kümmern.

Das sind Debatten einer Arbeitsgesellschaft über ihre Aufzuchtoptimierung. Um Kinder geht es dabei eher nicht.

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