Rosa Kaninchen

Berliner Abende Auf der Wiese vor dem Deutschen Theater steht ein rosa Karnickel. ...

Auf der Wiese vor dem Deutschen Theater steht ein rosa Karnickel.

Es ist etwa 1,85 Meter groß und hat lange Schlappohren, wie die Kaninchenrasse Blauer Widder. Das Fell ist altrosa und schon etwas abgewetzt. Latz und Blume sind weiß, ebenso wie seine Handschuhe. Es ist von einer Schar von Kindern unterschiedlicher Größe und Alters umgeben. Konzentriert und mit offensichtlichem Spaß an der Sache folgen sie den Anweisungen des Kaninchens. Sie formieren sich zu wechselnden Gruppen, heben ihre Arme, stützen die Hände gegeneinander, bilden paarweise Brücken. Das Kaninchen dirigiert das Geschehen.

Es ist heiß, der Mensch, der Statur zufolge ein Mann, muss in seinem altrosa Plüschfell furchtbar schwitzen, aber man merkt es ihm nicht an. Angesichts des plumpen Kostüms wirkt die Virtuosität seiner weißbehandschuhten Hände verblüffend. Sie wirbeln elegant durch die Luft, klopfen leicht und schnell ineinander, tanzen umeinander, weisen energisch in diese oder jene Richtung, die Kinder folgen sofort. Das rosa Kaninchen ist offenkundig eine unbestrittene Autorität. Es weiß genau, was es will, und wirkt keine Sekunde lächerlich.

Immer wieder laufen Menschen über die Wiese, vorbei an dem Riesenkaninchen, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen. Ganz so, als würden ihnen täglich ausgewachsene Männer mit rosa Schlappohren über den Weg laufen. Diese höfliche Diskretion mochte ich immer an den Berlinern. Brad Pitt könnte nackt auf der Wiese Yoga-Übungen machen, und kein Schwein würde gucken. Sie würden es ungerührt zur Kenntnis nehmen und so tun, als hätten sie nichts gesehen. Anstarren wäre aufdringlich und provinziell. Wenn Brad Pitt nackt auf der Wiese turnen möchte, bitteschön. Man glotzt keine Promis an, keine Verrückten und auch keine rosa Riesenkaninchen. Nur Knut und Paris Hilton, weil es deren Daseinszweck ist.

Mein erster Impuls ist also, einfach weiter zu gehen. Dann setze ich mich aber doch auf eine Bank, pfeife auf den Berliner Kodex und glotze hemmungslos. Und bin dabei nicht allein. Neben mir sitzt eine Frau mit ihren beiden erwachsenen Söhnen. Die Frau ist um die 50 und sehr umfangreich, die rotgefärbte Dauerwelle kräuselt sich störrisch. Ihre Söhne sind hochaufgeschossen und schlaksig, Mitte zwanzig, mit stoppelkurzen Haaren, an den Füßen Turnschuhe. Sie ähneln sich verblüffend, bis hin zum etwas leeren Blick. Alle drei mampfen üppig mit Wurst belegte Brötchen aus der Bäckerei um die Ecke, während sie unverwandt den Mann im Hasenkostüm anstieren.

"Kuck ma", sagt die Frau, "wat isn dit fürn Vogel. Kindajeburtstach oda wat." Sie meckert kurz. Ihr Sohn antwortet mit einem "Hmpff", das im Wurstbrötchen erstickt.

Schweigen auf der Bank nebenan. Mampfen. Der Hase lässt die Kinder jetzt in zwei Reihen antreten und führt sie von der Wiese. Sie verschwinden Richtung Theater. Die Frau mit dem halb aufgegessenen Brötchen sieht enttäuscht aus, als hätte jemand plötzlich den Fernseher abgeschaltet. "Armet Schwein", sagt sie noch. "Bei die Hitze."

Dann wischt sie sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und drückt den Rücken durch. Die drei üppigen Wülste um ihren Leib geraten in heftige Bewegung. Der glänzende Stoff des ärmellosen Tops spannt sich gefährlich eng um die Körpermasse. Er hat genau dieselbe Farbe wie das Hasenkostüm.

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