Zettelwirtschaft

Alltag Berliner Abende

Ich habe Post bekommen. Keine elektronische, sondern altmodisch, im Briefkasten, mit Umschlag, handgeschriebener Adresse, Briefmarke und Poststempel drauf. Nur der Absender ist ungewöhnlich kurz: b.

b. und ich pflegen eine eigentümliche Kommunikation. Alles hatte damit begonnen, dass ich am Bauzaun neben unserem Haus immer wieder kleine kryptische Botschaften fand. Eine aufgedröselte Klorolle, auf der "Zweiseelenverkleber" stand, Pappschilder mit umwerfenden Gedichten. Der Autor blieb anonym. Mir gefiel die Zaunpoesie so gut, dass ich in einer Zeitung einen Text darüber schrieb. Den Artikel hängte ich für den Wortkünstler mit Wäscheklammern an den Zaun.

Die nächste Stufe unseres Zwiegesprächs war dann sein Brief mit dem schlichten b. als Absender. Aus meinem Namen hatte er ein Anagramm gemacht: SEITLICHKLUGER. Respekt. Dafür muss man schon eine Menge gescrabbelt haben. Kurz: Es war ein schöner, lustiger, herzerwärmender Brief, dem weitere kleine Gedichte beigelegt waren. Zum Beispiel:

Ich bin der diedas

Der aber wenn und wiewas

Ich bin von unten mal von oben

Vernetzt verkabelt und verwoben

Ich bin das ur und bin der knall

Der apfel schwerkraft

freier fall

Außerdem schrieb er, der Artikel sei ein schönes Geburtstagsgeschenk für ihn gewesen, als Dankeschön habe er mir eine Botschaft an den Zaun vor der Haustür gehängt: ein Stück Holz mit dem Wort "Pferdegebrabbel". Aber leider war es schon wieder von jemandem entfernt worden, wie mir b., mein unbekannter Nachbar, in seinem Brief mitteilte. Er hatte den Hausmeister in Verdacht.

Das sind die Risiken öffentlicher Kommunikation. Andererseits entwickelt die Sache inzwischen ein lustiges demokratisches Eigenleben: Zwar war mein "Pferdegebrabbel" einfach weg, dafür saß kurz darauf auf dem Bauzaun ein kleines Stofftier - und es stammte weder von mir noch von b. "Habe laut gelacht (in der nacht)" kommentierte b.

Mich erinnerte unsere Zettelwirtschaft plötzlich an gewisse Kommunikationsformen, die in Ostberlin vor dem Mauerfall gebräuchlich waren, als an Mobiltelefone und E-Mail nicht zu denken war, noch nicht mal an einen regulären Telefonanschluss. Daher klapperten meine Freunde und ich abends, wenn wir jemanden treffen wollten, die Wohnungen der anderen ab. Für den Fall, dass keiner daheim war, hatten die meisten Bleistifte vor die Tür gehängt, damit man seine Botschaft ("War hier") auf einem Papierröllchen oder gleich auf dem Türblatt hinterlassen konnte. Manche Türblätter lasen sich wie Gästebücher. Irgendwo traf man schließlich immer jemanden an, und dann meist nicht nur den Bewohner selbst, sondern gleich mehrere, die sich ebenfalls auf Stadtwanderung begeben hatten. (Unsere Kinder, die manchmal Stunden brauchen, um sich per Handy für einen Treffpunkt zu entscheiden, haben es auch nicht leichter, sich zu begegnen.)

Jetzt ist es wieder an mir, b. zu antworten. Ich warte auf die nächste Botschaft am Zaun.

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