Die gefesselten Hände über dem Kopf

Ein palästinensischer Mandela Nur ein Fatah-Politiker wie Marwan Barghouti könnte Gaza-Streifen und Westbank wieder versöhnen - doch der sitzt in einem israelischen Gefängnis

Marwan Barghouti, geboren am 6. Juni 1958 in Ramallah, war Kommandeur der Fatah-Tanzim-Milizen im Westjordanland. Er zählte zu den Anführern der Zweiten Intifada, die im September 2000 begann, forderte ein Ende der Besetzung des Westjordanlandes sowie des Gazastreifens durch Israel und billigte zu diesem Zweck auch das Vorgehen der militanten "al-Aqsa-Märtyrer".

Nach seiner Verhaftung im April 2004 wurde er bereits am 6. Juni 2004 zu fünfmal lebenslänglich und 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Er bestritt die Rechtmäßigkeit des Verfahrens und weigerte sich, den israelischen Gerichtshof anzuerkennen.

Barghouti hatte erwogen, Nachfolger Arafats zu werden und für die Präsidentschaft der Autonomiebehörde zu kandidieren. Ihm wurden gute Chancen eingeräumt, da er als charismatischer Politiker über einen starken Rückhalt besonders bei jungen Palästinensern verfügt. Auf Druck seiner Fatah-Bewegung verzichtete er dann jedoch auf eine Kandidatur zugunsten des als gemäßigt geltenden früheren Ministerpräsidenten Abbas, der von den USA unterstützt wurde.

Die Teilung der palästinensischen Gebiete in Hamastan im Gazastreifen und Fatahland auf der Westbank ist eine Katastrophe. Die Kluft wird von Tag zu Tag größer, der Ton zwischen den Parteien härter und unerbittlicher.

Die Fatahleute in der Westbank mit Präsident Abbas an ihrer Spitze verurteilen die Hamas als Bande von Fanatikern, die den Iran imitiere, von ihm geleitet und wie die Ayatollahs ihr Volk ins Unglück führen werde. Die Hamasleute dagegen klagen Abbas an, ein palästinensischer Marschall Pétain zu sein, der sein Volk auf den schlüpfrigen Pfad der Kollaboration zwingt.

Alles sieht nach einer Sackgasse aus. Viele Palästinenser sind verzweifelt, da sie keinen Ausweg sehen. Andere suchen nach kreativen Lösungen wie Afif Safieh, der Chef der palästinensischen Vertretung in den USA - er schlägt vor, eine Palästinenser-Regierung aus völlig neutralen Experten zu bilden, die weder der Fatah noch der Hamas angehören. Die Chancen dafür sind freilich gering.

Gleichzeitig taucht bei Gesprächen in Ramallah immer öfter ein Name auf: Marwan Barghouti. "Er hält den Schlüssel in der Hand", sagen sie dort, "für beide Konflikte, den zwischen Fatah und Hamas und den zwischen Israelis und Palästinensern."

Einige sehen ihn als palästinensischen Mandela. Der Vergleich mag überraschen, denn Barghouti und Mandela sind sehr verschieden, physisch und in ihrem Temperament. Andererseits wurden beide wegen Terrorismus angeklagt und im Gefängnis zu Nationalhelden. Nelson Mandela unterstützte 1961 die Entscheidung des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), auch den bewaffneten Kampf gegen die rassistische Regierung (nicht gegen weiße Zivilisten) zu führen. Er blieb 28 Jahre in Haft, weil er sich weigerte, seine Freilassung durch eine Erklärung zum Gewaltverzicht zu erkaufen.

Marwan Barghouti sprach sich gleichermaßen für den militanten Widerstand der Fatah-Tanzim-Organisation aus und ist deshalb zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Und das gleich mehrfach.

Israels Fahne auf Barghoutis Balkon

Ich sah Barghouti zum ersten Mal 1997, als er sich einer Gush-Shalom-Demonstration anschloss, die gegen den Bau der Modiin-Illit-Siedlung im Westjordanland protestierte. Fünf Jahre später demonstrierten wir während seiner Verhandlung im Gerichtssaal mit dem Slogan: "Barghouti an den Verhandlungstisch, nicht ins Gefängnis!"

Vor einer Woche nun besuchte ich Marwans Familie in Ramallah, denn ich kenne seine Frau Fadwa seit der Beerdigung von Yassir Arafat. Ihr Gesicht war damals feucht von Tränen. Wir standen mitten in der Menge der Trauernden, der Lärm um uns war ohrenbetäubend, und wir konnten nur wenige Worte miteinander wechseln.

Fadwa Barghouti ist Anwältin und Mutter von vier Kindern, drei Söhnen und einer Tochter. Kassem, der Älteste, musste schon für ein halbes Jahr in ein israelisches Gefängnis - ohne Prozess und ohne Urteil. Die Familie lebt in einer komfortablen Eigentumswohnung. Auf dem Weg dorthin fällt mir die rege Bautätigkeit in Ramallah auf. Es sieht so aus, als würden an jeder Ecke neue Häuser entstehen, inklusive stattlicher Geschäftsbauten.

Die Wohnung selbst ist mit Fotos und Zeichnungen von Barghouti geschmückt, darunter eine große Grafik, die von einem bekannten Foto inspiriert wurde: Sie zeigt Marwan im Gericht, als er die mit Handschellen gefesselten Hände wie ein siegreicher Boxer über seinem Kopf hält. Als die Sicherheitskräfte vor Jahren nach ihm suchten, nahmen sie drei Tage lang das Apartment in Besitz und hissten eine große israelische Fahne auf dem Balkon.

Fadwa ist eine der wenigen Personen, die ihn besuchen dürfen. Nicht als Anwältin, nur als "nahe Verwandte". Für jeden Besuch benötigt sie eine Genehmigung, die es ihr nur erlaubt, direkt zum Gefängnis zu fahren, ohne irgendwo in Israel zu halten. Den drei Söhnen hingegen ist es verboten, den Vater zu sehen. Begründung der Israelis: Alle drei seien älter als 16.

Bisher haben die Diffamierungen zwischen Fatah und Hamas Barghouti verschont. Die Hamas achtet darauf, ihn nicht anzugreifen. Im Gegenteil, als sie vor einem Jahr eine Liste von Gefangenen aufgestellt hatte, die gegen den israelischen Soldaten Gilad Shalit ausgetauscht werden sollten, stand Barghouti - obwohl Fatahführer - ganz oben.

Barghouti war es auch, der gleichfalls vor einem Jahr zusammen mit Häftlingen aus anderen palästinensischen Parteien das berühmte "Gefangenen-Dokument" schrieb, das zu nationaler Einheit aufrief. Alle - auch die Hamas - akzeptierten dieses Papier, das zur Basis für den "Vertrag von Mekka" wurde, der im Februar 2007 eine kurzlebige Regierung der nationalen Einheit ermöglichte. Bevor es Hamas und Fatah unterschrieben, wurden reitende Boten zu Marwan gesandt, um sein Einverständnis einzuholen. Erst als das vorlag, wurde unterzeichnet.

Ich höre kein Dementi

Meinen Besuch in Ramallah nutze ich auch, um mich unter Barghoutis Anhängern umzutun. Sie versuchen, nicht vom Klima des gegenseitigen Hasses mitgerissen zu werden, das die Führung beider Seiten derzeit beherrscht. Einige stören sich an den Aktionen von Hamas im Gaza-Streifen, versuchen aber die Ursachen zu verstehen. Kaum jemand aus der Hamas habe im Westen studiert, ihr geistiger Horizont sei durch das religiöse Bildungssystem geformt und entsprechend verengt. Die komplexe internationale Situation, in der die palästinensische Befreiungsbewegung operieren müsse, bleibe den meisten Hamas-Führern vollends fremd.

Kaum jemand erinnert sich heute noch daran, dass die Hamas bei den Wahlen vom Januar 2006 auf 35 bis 40 Prozent gehofft hatte, um die Legitimität ihrer Bewegung zu stärken, und vollkommen überrascht war, als sie eine Zwei-Drittel-Mehrheit erhielt. Es gab für diesen Fall keine Pläne. Es wurde überstürzt auf ein Kabinett gesetzt, dem nur Hamasmitglieder angehörten, statt auf einer Einheitsregierung zu bestehen und die sofort einsetzende internationale Blockade aufzuhalten oder abzuschwächen.

Marwan Barghoutis Anhänger schrecken nicht vor Selbstkritik zurück. Ihrer Meinung nach ist die Fatah nicht ohne Schuld an dem, was im Gaza-Streifen passiert ist. Die Bewegung habe sich selbst geschadet, als sie Hamasführer verhaftete und demütigte. Besonders Mahmoud al-Zahar, den Außenminister der Hamas-Regierung, dem in der Haft der Bart abrasiert und der öffentlich mit dem Namen einer berühmten ägyptischen Tänzerin verspottet wurde.

Ich höre kein Dementi, als ich die Behauptung zitiere, Muhammed Dahlan, früher Vertrauter und Sicherheitsberater von Präsident Abbas, habe einen Militärputsch in Gaza geplant. Dahlan, der Liebling der Amerikaner und Israelis, glaubte im Mai - ausgerüstet mit fremden Waffen und fremdem Geld sei es ein Leichtes, den Gaza-Streifen zu übernehmen (s. Freitag 23/07). Doch kam ihm die Hamas zuvor und führte selbst einen bewaffneten Schlag. Da im Gaza-Streifen die Mehrheit Dahlan wegen seiner Kollaboration mit der Besatzung verachtete, gewann die Hamas innerhalb von Stunden die Oberhand - Dahlan erhielt daraufhin die Order von Mahmoud Abbas, ins Exil zu verschwinden.

Ich hätte gern auch etwas über die Ansichten der Hamas geschrieben, es ist nur leider im Augenblick ganz unmöglich, den Gazastreifen zu betreten. Und meine Hamas-Gesprächspartner aus Ostjerusalem sind ausnahmslos in israelische Gefängnisse abgewandert.

Nicht mehr als ein Knochen

Wie wollen die Palästinenser aus dieser Klemme herauskommen? Können sie noch einmal eine nationale Führung aufbauen, die von allen Teilen der Bevölkerung - in der Westbank und im Gazastreifen - akzeptiert wird, und in der Lage ist, sowohl den nationalen Kampf zu führen als auch mit Israel Frieden zu schließen, wenn Frieden möglich wird?

Die Anhänger Marwan Barghoutis glauben, sobald Israel davon überzeugt ist, dass es Frieden braucht, wird ihr Idol keinen Tag länger im Gefängnis sitzen und eine zentrale Rolle bei der Versöhnung spielen. Ähnlich wie Mandela, der in Südafrika aus der Haft entlassen wurde, als die weiße Regierung zu dem Schluss kam, die Apartheid nicht länger aufrechterhalten zu können.

Was wird geschehen, bis es soweit ist?

Kaum jemand auf palästinensischer Seite glaubt, dass Ehud Olmert ein Friedensabkommen aushandeln und dann auch erfüllen will - kaum jemand glaubt, dass irgendetwas bei jenem "Internationalen Nahost-Treffen" herauskommen wird, das vermutlich Anfang November auf Einladung der Amerikaner stattfinden soll. Die Palästinenser sind davon überzeugt, eine solche Konferenz ist nicht mehr als ein Knochen, den Präsident Bush seiner Außenministerin hinwirft, weil die Bedeutung von Condoleezza Rice in seiner Administration dramatisch schrumpft.

Was geschieht, wenn dieses Treffen ohne Ergebnis bleibt? "Dann wird es kein Vakuum geben" sagte mir einer der Fatahführer in Ramallah. "Wenn die Bemühungen von Präsident Abbas keine Früchte tragen, gibt es eine weitere Explosion wie die Intifada nach Camp David im Sommer vor sieben Jahren."

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs


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