Wer hat angefangen? Eine dumme Frage. Konflikte entlang des Gazastreifens beginnen nicht. Sie sind eine anhaltende Kette von Vorfällen, von denen behauptet wird, sie seien nur „Vergeltungen“ für den letzten Vorfall. Einer Aktion folgt eine Re-Aktion, der wieder eine Vergeltung folgt.
Der jüngste besondere Vorfall begann mit einer Antipanzerrakete aus Gaza, die ein Patrouillenfahrzeug auf der israelischen Seite des Grenzzauns traf – die Vergeltung für das Töten eines Fußball spielenden Palästinensers einige Tage zuvor. Die Rakete führte in Gaza zu Demonstrationen des Stolzes – Palästinenser hatten bewiesen, den Feind treffen zu können.
Der gezielte Schuss über die Demarkationslinie hinweg – ob auf Befehl von
b auf Befehl von Hamas oder einer anderen Organisation – kam dem Überschreiten einer roten Linie gleich. Es folgte eine israelische Reaktion, indem Panzer Granaten in den Gazastreifen feuerten. Hamas antwortete mit Raketen, sodass Tausende Israelis in Schutzkeller eilten. Wie üblich traten die Ägypter in Aktion und arrangierten hinter den Kulissen eine Feuerpause. Es schien so, als wollte die israelische Seite darauf eingehen. Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak zeigten sich an der Grenze zu Syriens, als wollten sie sagen: Wir denken momentan nicht an Gaza.Auch dort atmete man auf. Es gab Entwarnung, Menschen verließen ihre Häuser, der oberste Hamas-Kommandeur Ahmad Ja’abari stieg in seinen Wagen und fuhr die Hauptstraße entlang. Und dann schnappte die Falle zu. Sein Fahrzeug wurde von einer Rakete aus der Luft getroffen.Hamas maximal treffenEin solcher Anschlag geschieht nicht spontan, sondern nach monatelanger Vorbereitung, während der man Informationen sammelt und auf den rechten Moment wartet, ihn auszuführen, ohne viele Unbeteiligte zu töten und einen internationalen Skandal auszulösen. Eigentlich sollte das Attentat einen Tag früher stattfinden, wurde aber wegen schlechten Wetters verschoben. Der Getötete war unbestritten eine Führungsfigur der Hamas in Gaza. Ja’abari sorgte dafür, dass die Israelis jahrelang vergeblich nach dem Versteck des gefangenen Soldaten Gilat Shalit suchten. Als der am 18. Oktober 2011 an die Ägypter übergeben wurde, ließ sich Ja’abari dabei fotografieren.Nun wurde seine Leiche aus einem ausgebrannten Wagen gezogen, und es waren die Israelis, die jubilierten – die gezielte Tötung war der Startschuss für ihre Militäraktion. Denn der Gazastreifen ist voller Raketen, von denen einige inzwischen in der Lage sind, Tel Aviv zu erreichen. Der Geheimdienst hat ihre Standorte sondiert. Sie zu treffen war Zweck der Operation „Säule der Verteidigung“. Der Name bezieht sich auf: „Und der Herr ging vor ihnen her am Tage in einer Wolkensäule, um sie auf den rechten Weg zu führen“ (Exodus 13,21).Was wir in den letzten Tagen erlebt haben, war nicht die Wiederholung des Gaza-Einmarschs vom Dezember 2008. Denn die Armee hat aus Misserfolgen gelernt. Diese Intervention wurde zwar seinerzeit als großer Erfolg gefeiert, war aber in Wirklichkeit eine Katastrophe. Soldaten in ein dicht bevölkertes Gebiet zu schicken, das hieß, große Verluste unter der Zivilbevölkerung zu verursachen und Kriegsverbrechen zu begehen. Die Reaktion der Welt war desaströs, der politische Schaden für Israel immens. Der damalige Generalstabschef Gabi Ashkenazi wurde weithin gelobt – tatsächlich war er ein ziemlich primitiver Militär. Sein Nachfolger Benny Gantz ist von anderem Kaliber. Bisher wurden denn auch grandiose Statements vermieden. Das Ziel sei es – heißt es diesmal – die Hamas mit einem Minimum an zivilen Opfern maximal zu schaden. Doch was hätte sich an der Grundsituation geändert, wäre das gelungen?Ahmad Ja’abari wird ersetzt. Israels Geheimdienste haben Dutzende arabischer Führer umgebracht. Damit es verbindlicher klang, sprach man lieber von „vorbeugenden Maßnahmen“ oder „gezielten Eliminierungen“.Der Emir in GazaManchmal hat man den Eindruck, die gezielten Tötungen stünden als Tat an sich. Was danach geschieht, ist Nebensache. Was folgte daraus? Man schaltete den Hisbollah-Führer Abbas al-Moussawi aus und erhielt an seiner Stelle den weit intelligenteren Hassan Nasrallah. Man streckte den Hamas-Gründer Sheik Ahmad Yassin nieder, der ebenfalls durch fähigere Männer ersetzt wurde. Wer beerbt Ja’abari? Wird er einen anderen Kurs verfolgen als der Getötete? Anders gefragt: Lassen sich die Fortschritte von Hamas weiterhin durch Gewalt stoppen?Eher wird das Gegenteil eintreten. Erst Ende Oktober gab es für die Hamas einen diplomatischen Durchbruch, als ihnen der Emir von Katar als erstes arabisches Staatsoberhaupt einen Besuch abstattete. Jetzt kam sogar Ägyptens Premier mitten im Krieg. Die Operation „Säule der Verteidigung“ hat alle arabischen Länder gezwungen, sich mit der Hamas zu identifizieren oder so zu tun. Und Hamas konnte die Behauptung extremistischer Gruppen in Gaza widerlegen, die Führung sei zu gemäßigt und genieße die Früchte des Regierens. Stattdessen haben diese radikalen Palästinenser einen weiteren moralischen Sieg über Mahmud Abbas errungen. Dessen Sicherheitskooperation mit Israel wirkt im Moment eher widerwärtig.Gab es eine Alternative zur Eskalation? Es gibt eine Menge. Zunächst könnte man sich vom „Re-agieren“ verabschieden und mit Hamas als der De-Facto-Regierung des Gazastreifens reden. Man tat es, als wegen der Entlassung von Gilat Shalit verhandelt wurde. Warum nicht – zusammen mit Ägypten – nach einem Modus Vivendi suchen und zu einer Hudna finden? In der arabischen Kultur ist die Hudna eine verbindliche, von Allah geheiligte Waffenruhe, die viele Jahre hält. Eine Hudna kann nicht verletzt werden. Sogar die Kreuzfahrer schlossen mehrmals Hudnas mit ihren muslimischen Feinden.Unmittelbar nach dem Anschlag auf den Kommandeur der Kassam-Brigaden berichtete der Friedensaktivist Gershon Baskin, der 2011 an den Verhandlungen zur Befreiung Shalits beteiligt war, dass er bis zum letzten Tag Kontakt mit Ja’abari hatte. Der sei an einer langfristigen Waffenruhe interessiert und die Israelis darüber informiert gewesen. Die Hamas hat mehrfach erklärt, sie würde ein durch die PLO geschlossenes Friedensabkommen mit Israel respektieren, das einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 vorsieht. Kommt es dazu nicht, wird das Blutvergießen von dieser in die nächste Runde gehen.