Die siamesischen Zwillinge

Iran & Israel Gott sei Dank gibt es die iranische Bombe und damit eine existentielle Bedrohung Israels. Wie gut doch Mahmud Ahmadinedschad und Avigdor Lieberman zusammenpassen

Ich sage nicht, dass Mahmud Ahmadinedschad ein Agent des israelischen Geheimdienstes Mossad sei. Absolut nicht. Ich will nicht wegen Verleumdung gerichtlich belangt werden. Ich sage nur, wenn er ein Agent des Mossad wäre, könnte er sich kaum anders verhalten. Und: wenn es ihn nicht gäbe, hätte der Mossad ihn erfinden müssen. Auf jeden Fall ist die Hilfe, die er der Regierung Israels gibt, von unschätzbarem Wert.

Schauen wir auf den jüngsten Skandal in Genf, ich meine die UN-Anti-Rassismus-Konferenz. Die Regierung Netanyahu erwartete sie mit großer Besorgnis. Die Gräueltaten während des Gaza-Krieges lagen nicht lange zurück, die Konferenz konnte ein Ventil für dadurch ausgelöste Emotionen sein, die intelligentesten Köpfe in Jerusalem versuchten folglich Wege zu finden, dies zu verhindern.

Aber dann kam Ahmadinedschad. Wenn die „Weisen von Zion“ seinen Auftritt geplant hätten – sie hätte sich nichts Besseres einfallen lassen können. All dies geschah auch noch am Holocaust-Tag, wenn Juden in Israel und in aller Welt der Millionen Opfer des Genozids gedenken. Jeder Jude weiß, wenn die Nazis ihn erreicht hätten, dann hätte auch er in die Todeslager gehen müssen. Wir, die wir damals in Palästina lebten, wussten, dass wir das Schicksal des Warschauer Ghettos geteilt hätten, wenn es General Rommel gelungen wäre, die britischen Linien bei El-Alamein zu durchbrechen.

Ein aktueller Feind, ein „zweiter Hitler“ ist nötig

Alle Juden empfinden daher, es sei ihre moralische Pflicht, das Gedächtnis an den Holocaust wach zu halten. Doch mit der Zeit verblasst die Erinnerung. Deshalb ist ein gegenwärtiger, aktueller Feind, ein „zweiter Hitler“ nötig, der alle latenten Ängste, die in der jüdischen Seele lauern, neu weckt. Einst war es Präsident Gamel Abdel Nasser, „der ägyptische Tyrann“. Dann übernahm Yassir Arafat diesen Part, nach seinem Tod war es die Hamas, aber das genügt offenbar nicht. Kaum jemand lässt sich überzeugen, dass Hamas Israel auslöschen könnte.

Der ideale Ersatz heißt Mahmud Ahmadinedschad, der erklärt, die „zionistische Entität“ müsste von der Landkarte verschwinden, und der an der Herstellung von Kernwaffen arbeiten soll. Was ernst zu nehmen ist, ein paar Atombomben könnten Israel auslöschen. Also haben wir einen „zweiten Hitler“, der einen „zweiten Holocaust“ plant. Gegen ihn können sich alle Juden der Welt vereinigen. Was würden wir ohne ihn tun? Dabei spielt die iranische Bombe noch eine andere Rolle – sie hilft, das palästinensische Problem vergessen zu lassen. In der kommenden Woche nun wird Benjamin Netanyahu im Weißen Haus empfangen, möglicherweise ein schicksalhaftes Treffen. Barack Obama könnte unumwunden fordern, einen Friedensprozess zu beginnen, der zu einem palästinensischen Staat führt. Israels Premier wird alles tun, dies zu verhindern, wäre er doch in diesem Fall gezwungen, die Siedlungen zu evakuieren. Wodurch seine Koalition sofort aus einander fallen würde.

Gott sei Dank gibt es die iranische Bombe und damit eine existentielle Bedrohung. Es leuchtet ein, dass der Regierungschef Israels sich nicht Bagatellen wie dem Frieden mit den Palästinensern widmen kann, wenn das nukleare Schwert des Iran über ihm schwebt! Schon Ehud Olmert wusste, die Bombe ist unsere Agenda.

Deshalb sitzen Ahmadinedschads begeistertste Anhänger im Verteidigungsministerium von Tel Aviv. Denn jedes Jahr bricht aufs Neue der Kampf um das Verteidigungsbudget aus – besonders erbittert wird er 2009 im Schatten der Wirtschaftskrise geführt. Das kleine Israel hat einen der teuersten Militärapparate weltweit. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt übertrumpfen wir die USA. Warum? Weil Israel von Feinden umgeben ist. Zwar ist Ägypten der loyalste Kollaborateur Israels, hat der Irak die Bühne verlassen, gilt Syrien als keine Bedrohung mehr, gibt sich Jordanien bescheiden, tanzt die Palästinenser-Behörde des Mahmud Abbas nach unserer Pfeife, doch kämpfen wir gegen Hamas und Hisbollah. Zur Begründung eines solch riesigen Verteidigungs­etats reicht das freilich nicht aus.

Unsere kühne Luftwaffe muss sich mit Gaza zufrieden geben

Gott sei Dank gibt es den Iran. Unsere Luftwaffe erklärt, sie sei minütlich bereit, abzuheben, um alle iranischen Atomanlagen zu vernichten. Dafür braucht sie die modernsten Flugzeuge der Welt, von denen jedes viele Millionen Dollar kostet. Also wird das Budget wohl genehmigt, aber die Piloten werden nicht fliegen, denn ein solcher Angriff ist politisch nicht möglich: Er kann ohne die ausdrückliche Genehmigung der USA nicht stattfinden. Und die Amerikaner werden sie nicht erteilen, weil eine Aggression automatisch die Schließung der Straße von Hormuz zur Folge hätte, durch die alles Öl aus den Golfstaaten verschifft wird. Unsere kühne Luftwaffe wird damit zufrieden sein müssen, die Wohngebiete in Gaza zu bombardieren.

Es könnte behauptet werden: Wenn sich Ahmadinedschad wie ein Mossad-Agent verhält, dann Avigdor Lieberman wie ein Agent des iranischen Geheimdienstes. Das sage ich – Gott bewahre – nicht, aber das Verhalten von Netanyahus Außenminister mutet schon seltsam an. Nachdem er Ägyptens Hosni Mubarak zur Hölle gewünscht hat, hieß es in den israelischen Medien, der wichtigste ägyptische Minister habe sich mit ihm getroffen, seine Hand geschüttelt und ihn nach Ägypten eingeladen. Vielleicht um ihm den Assuan-Staudamm zu zeigen, den Lieberman einst zu bombardieren wünschte. Am nächsten Tag reagierte ein wütender Mubarak und erklärte, dass es Lieberman nicht erlaubt sei, seinen Fuß auf ägyptischen Boden zu setzen.

Mittlerweile veröffentlichte eine bedeutende russische Zeitung ein Interview mit Lieberman, in dem er behauptet, dass „die USA alle unsere Entscheidungen akzeptieren“. Das würde bedeuten: wir beherrschen Amerika; Obama tut, was wir sagen. Derartige Sprüche werden Israels Popularität im Weißen Haus mit Sicherheit nicht vermehren, nachdem auch noch bekannt wurde, dass die Lobby des American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) eine Kongressabgeordnete angefragt hat, zugunsten von zwei amerikanischen Juden zu intervenieren, die wegen Spionage für Israel in den USA angeklagt wurden. Keine angenehme Enthüllung.

Kurz gesagt: Irans Ahmadinedschad und Israels Lieberman sind wie siamesische Zwillinge. Der eine braucht den anderen. Lieberman reitet auf der iranischen und Ahmadinedschad auf der israelischen Bedrohung. „Können denn zwei mit einander gehen, sie seien denn einig untereinander?“, fragt der Prophet Amos (3,3). Die Antwort lautet: Ja, tatsächlich. Diese zwei können sehr wohl zusammengehen, ohne miteinander in irgendetwas überein zu stimmen.

Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, ist Schriftsteller und Journalist in Israel und schreibt regelmäßig im Freitag. Avnery wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Aachener Friedenspreis, dem Bruno-Kreisky-Preis sowie dem Alternativen Nobelpreis.

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