Ein leichter Schlag an der Tragfläche

Kategorischer Imperativ Wenn israelische Elitesoldaten gegen Sharon meutern

"Wir sagen heute, dass wir nicht länger helfen werden, Millionen Palästinensern ihre Menschenrechte vorzuenthalten", hieß es Ende Dezember 2003 in einem Offenen Brief von 13 Soldaten der israelischen Elite-Einheit Sayeret Matkal (Generalstabskommando) an Premier Ariel Sharon. Innerhalb von wenigen Wochen war diese Erklärung nach dem Protest von Piloten der Luftwaffe eine weiteres Zeichen der offenen Auflehnung und des Aufruhrs gegen rücksichtslose Militäraktionen der israelischen Armee in den palästinensischen Autonomiegebieten.

Als vor ein paar Jahren die Jury des Israel-Preises verkündete, die Auszeichnung solle Professor Yeshayahu Leibowitz (*) zugesprochen wurde, entschied ich mich, ihn zu einem Vortrag beim "Israelischen Rat für israelisch-palästinensischen Frieden" einzuladen. Diese Gruppe war Bahnbrecher für die Kontakte mit der PLO. Er käme gern, meinte Leibowitz, doch müsse ihm zugestanden werden, über die Pflicht zur Verweigerung des Militärdienstes in den besetzten Gebieten reden zu dürfen - für ihn das "Ein-und-Alles" im Kampf gegen die Besatzung. Ich sagte ihm, er sei völlig frei und könne reden, worüber er wolle, selbst wenn ich seine Meinung nicht ganz teilen sollte. Seitdem bin ich ständig mit mir selbst über dieses schwierige und schmerzliche Thema im Streitgespräch.

Wenn alle sittlich denkenden Menschen die Armee verlassen ...

Ich bin kein Pazifist - nicht in dem Sinne, jedes Waffentragen total zu verweigern. Mein Herz ist mit Yoni Ben-Artzi (**/s. Freitag 34/03), der jetzt wegen seiner kompromisslosen pazifistischen Haltung vor Gericht steht, ein erstaunlicher und bewundernswerter junger Mann. Aber als Glied einer Generation, die noch den Krieg gegen die Nazis erlebt hat, kann ich das Prinzip nicht akzeptieren, dass jeder Krieg zu verurteilen sei. Nachdem die Nazis in Deutschland erst einmal zur Macht gekommen waren und damit begannen, ihre aggressiven Vorhaben auszuführen, gab es keinen anderen Weg, sie zu stoppen als durch die Gewalt der Waffen. Solange es keine Weltordnung gibt, keine Weltregierung, kein Weltgesetz und keine Weltpolizei, kann es sich kein Land leisten, ohne Verteidigung zu sein.

Aber auch Yeshayahu Leibowitz war kein Pazifist. Er plädierte nicht für eine allgemeine Verweigerung, Waffen zu tragen, sondern die Weigerung, einer Besatzung zu dienen. Er glaubte an den moralischen Wert der Handlungsweise jedes sittlich verpflichteten Menschen, sich von einem ungerechten Regime zu lösen und zu erklären, sich keiner Politik zu unterwerfen, die unmenschlich, unmoralisch und illegal ist. Er glaubte zudem, das persönliche Beispiel des Verweigerers könne die Öffentlichkeit stark beeinflussen.

Diese Position ist natürlich mit Risiken verbunden, die mich zögern ließen. Als Erstes untergräbt sie die demokratische Ordnung, denn eine Armee ist dafür bestimmt, der legalen, von allen Bürgern gewählten Regierung zu dienen. Wenn man sich weigert, den Regeln der legalen Regierung zu folgen, untergräbt das die Fundamente der Demokratie. Als Zweites ermutigt man Opponenten. Gemäß dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant "soll jeder so handeln, dass die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann". Wenn A das Recht hat, den Militärdienst bei der Besatzung zu verweigern, hat folglich B das Recht, sich der Auflösung von Siedlungen zu entziehen. Und schließlich: Wenn alle sittlich denkenden Menschen die Armee verlassen, fällt sie in die Hände derer, die unmoralisch handeln. Alle israelischen Checkpoints in den Autonomiegebieten werden inzwischen ausschließlich von Araberhassern besetzt. Bleiben hingegen die sittlich denkenden Israelis in der Armee, können sie deren Geist so beeinflussen, dass Ungerechtigkeiten und Gräueltaten verhindert oder wenigstens ans Licht gebracht werden.

Ich besaß stets großen Respekt vor Verweigerern aus Gewissensgründen. Ich weiß, wie viel Mut von einem jungen (oder auch einem älteren) Menschen verlangt wird, den sozialen Druck der Familie, der Kameraden und Nachbarn auszuhalten. Ich bin von solch moralischem viel mehr beeindruckt als vom physischen Heldentum in der Schlacht, wenn man das ganze Volk hinter sich weiß - und ich spreche als einer, der in einer sogenannten "Elite-Einheit" gedient hat.

Ich spreche als einer, der in einer "Elite-Einheit" gedient hat ...

Deshalb habe ich das Recht zur Verweigerung immer unterstützt, war aber nicht bereit, von mir aus junge Leute aufzurufen, dieser Linie zu folgen. Jetzt aber fühle ich, dass meine Position sich ändert.

Zunächst haben mich viele Soldaten davon überzeugt, dass es fast unmöglich ist, dem Druck innerhalb der Armee zu widerstehen. Die Gehirnwäsche ist intensiv und unerbittlich; die höheren Ränge werden zusehends von Robotern mit abgestumpften Sinnen besetzt - ganz zu schweigen von den Mitgliedern der religiösen Akademien, die mit der Armee liiert sind, Araberhassern und Siedlern mit "gestrickten Kippas".

Die Besatzung als solche hat sich in ein Monster verwandelt, dem niemand dienen kann, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren. Wenn es die Mitglieder des meist gerühmten Teiles der israelischen Armee, der Sayeret Matkal (Generalstabskommando), ablehnen, weiter zu machen wie bisher, dann ist ihr Zeugnis ausschlaggebend. Große Achtung empfinde ich auch für die Piloten, die gegen ihren Kommandeur revoltierten, als der erklärt hatte, dass er "nichts außer einem leichten Schlag an der Tragfläche" spüre, wenn er eine Bombe fallen lasse, die Frauen und Kinder töte.

Gehen fünf 19-Jährige lieber ins Gefängnis, als sich an den Freiheiten eines Besatzers zu erfreuen, hätte selbst Kant vor ihnen salutiert. Der Protest gegen ein unmoralisches Regime ist ein kategorischer Imperativ.

Bereiten diese Verweigerungen, fragt man sich unwillkürlich, den Boden für die Verweigerung von Soldaten des rechten Flügels? Natürlich gibt es keine Symmetrie zwischen denen, die sich weigern, Teil einer permanenten Ungerechtigkeit zu werden - und den Siedlern, die selbst Teil dieser Ungerechtigkeit sind. Aber wenn man das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen anerkennt, muss Kants Prinzip auch für sie gelten. Falls es jemals zu einer Räumung der Siedlungen kommen sollte, muss das Recht eines Soldaten, aus Gewissensgründen daran nicht teilzunehmen, gesichert sein.

Wäre dies ein Schlag gegen die Demokratie? Ganz sicherlich, aber ein positiver Schlag, weil Israels Demokratie mit jedem Tag schwächer wird, die Regierung zu Sharons Kindergarten degradiert ist, die Knesset allgemeine Verachtung genießt, das Oberste Gericht selbst in weiten Teilen zu einem Instrument der Besatzung wurde - die Medien im Gleichschritt marschieren. Es sind die Verweigerer, die eine moralische Dimension in den öffentlichen Diskurs gebracht haben, wie eine Fackel, die in der Dunkelheit aufleuchtet. Der Akt der Verweigerung vertreibt die Verzweiflung, die jeden Teil des israelischen Kollektivs erfasst hat. Er bringt den Glauben an den Staat Israel und an seine junge Generation wieder zurück.

Selbstredend sind die Verweigerer nur eine kleine Minorität des Volkes und der Armee. Aber die ganze menschliche Geschichte wurde von solchen Minoritäten gemacht - von Leuten, die den Mut hatten, weiter zu gehen, wenn der Chor der Konformisten "halt!" schrie. Und noch eins: diese Leute erlauben uns, wieder stolz zu sein. Ein Volk, das solche Söhne hat, kann hoffen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs

(*) Der Enkel von Yeshayahu Leibowitz, Shamai Leibowitz, verteidigt heute als Anwalt die Verweigerer.

(**) Ein Militärdienstverweigerer, der jetzt erneut vor Gericht steht.

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