Wir sind inmitten eines geologischen Geschehens. Ein Erdbeben von historischen Dimensionen verändert die Landschaft unserer Region. Berge werden zu Tälern, Inseln tauchen aus dem Meer auf, Vulkane bedecken das Land mit Lava. Die Menschen fürchten sich vor Veränderung. Wenn es dazu kommt, neigen sie dazu, dies zu leugnen oder so zu tun, als sei nichts wirklich Bedeutendes passiert.
Die Israelis bilden da keine Ausnahme. Während Ägypten bebt, ist Israel mit einem Skandal in den oberen Rängen der Armee beschäftigt. Verteidigungsminister Ehud Barak verabscheut den amtierenden Stabschef, macht daraus kein Geheimnis und besorgt sich Schlagzeilen. Doch nicht diese Affäre, sondern Ägypten wird unser Leben verändern. Gewiss, den Aufstand dort treiben unzumutbare Lebenshaltungskosten, Armut und Arbeitslosigkeit, die betrogenen Hoffnungen der gebildeten 20- bis 30-Jährigen voran. Nur sollte kein Missverständnis aufkommen: die zugrunde liegenden Ursachen für den Sturz Mubaraks liegen tiefer. Sie gerinnen in einem Wort: Palästina. In der arabischen Kultur ist nichts bedeutsamer als die Ehre. Die Menschen können Demütigungen nicht weniger ertragen als Not. Nirgendwo war der Ehrverlust offensichtlicher als in Ägypten, das sich an der Blockade des Gazastreifens beteiligte und 1,5 Millionen Araber aushungern half. Gaza unter Verschluss zu halten – das war eine israelisch-ägyptische Operation.
Wie ein Rausch
Ein Diktator kann toleriert werden, wenn er die nationale Würde reflektiert – ein Diktator, der wie Mubarak nationale Schande personifiziert, ist ein Baum ohne Wurzeln. Ein starker Wind bringt ihn zu Fall.
Ich liebe das ägyptische Volk. Es stimmt zwar, dass man nicht 88 Millionen Individuen wirklich lieben kann, aber es ist durchaus möglich, ein Volk mehr als ein anderes zu verehren. Die Ägypter, die man auf den Straßen trifft, in den Häusern der intellektuellen Elite und in den Gassen der Ärmsten sind eine unglaublich geduldige Gesellschaft, ausgestattet mit einem unverwüstlichen Gespür für Humor, ungemein stolz auf ihr Land und seine achttausendjährige Geschichte. Für einen Israeli, der an seine aggressiven Landsleute gewöhnt ist, wirkt das fast vollkommene Fehlen von Aggressivität bei den Ägyptern erstaunlich. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, vor Jahren in einem Taxi durch Kairo gefahren zu sein, als das mit einem anderen zusammenstieß. Beide Fahrer stiegen aus und verfluchten einander mit schrecklichen Ausdrücken. Und dann hielten sie plötzlich inne und brachen in Gelächter aus.
Meine erste Begegnung mit Ägypten war wie ein Rausch. Nach dem beispiellosen Jerusalem-Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat im November 1977 eilte ich nach Kairo, ohne Visum. Niemals werde ich den Augenblick vergessen, als ich meinen israelischen Pass einem korpulenten Beamten am Flughafen reichte. Er blätterte ihn durch und wurde immer verwirrter. Und dann hob er seinen Kopf mit einem breiten Lächeln und sagte: „Marhaba!“ – „Herzlich willkommen!“ Es gab mit mir nur drei Israelis in der riesigen Stadt. Wir wurden wie Könige gefeiert. Frieden lag in der Luft, und die Menschenmassen Ägyptens liebten das.
Nach arabischer Tradition eine Schande
Es dauerte freilich nur ein paar Monate, bis sie spürten, sich getäuscht zu haben. Präsident Sadat hoffte und glaubte ehrlich, mit dem Camp-David-Abkommen auch den Palästinensern Befreiung gebracht zu haben. Bald jedoch merkte er, dass Israels Premier Menachem Begin nicht im Traum daran dachte, sein Versprechen zu erfüllen. Für ihn war der Vertrag mit Ägypten der Weg zu einem separaten Frieden, der es ihm ermöglichte, den Krieg gegen die Palästinenser zu intensivieren. Die Ägypter fühlten sich betrogen. Sie mochten die Palästinenser nicht über alles lieben, aber einen armen Verwandten zu verraten, das war nach arabischer Tradition eine Schande.
Bei jeder Revolution gibt es einen „Jelzin-Moment“, wenn Panzer losgeschickt werden, um – wie im August 1991 in Moskau – die Ordnung wiederherzustellen. Ein kritischer Augenblick, in dem sich Volk und Armee gegenüberstehen, und von dem man weiß: Weigern sich die Soldaten zu schießen, ist das Spiel für die etablierte Macht vorbei. Boris Jelzin, Präsident Russlands und Rivale Gorbatschwos, kletterte seinerzeit auf einen Panzer und sprach zu den Massen wie jüngst El Baradei auf dem Tahrir-Platz.
Der Ceausescu-Moment
Ein vorsichtiger Diktator flieht unter solchen Umständen ins Ausland wie einst der iranische Schah und jetzt Ben Ali. Denn es gibt schließlich noch den „Ceausescu-Moment“: Der Diktator steht auf dem Balkon und wendet sich an die Menge, da plötzlich von unten ein Schrei ertönt „Nieder mit dem Tyrannen!“. Für Minuten ist der Diktator sprachlos, bewegt seine Lippen geräuschlos, dann verschwindet er. Auch Husni Mubarak hielt zuletzt lächerliche Fernsehansprachen und versuchte, sich gegen die Flut zu stemmen und an den Realitäten vorbeizukommen. So wie Benjamin Netanjahu, der noch nicht in der Lage oder noch nicht bereit zu sein scheint, die schicksalhafte Botschaft der jetzigen Ereignisse für Israel zu begreifen.
Wenn Ägypten sich bewegt, wird die arabische Welt folgen. Alles, was israelische Regierungen in 44 Jahren Besatzung getan haben, kann dann obsolet sein. Wir stehen nach dem Abgang Mubaraks vor einer neuen Realität. Wir können als Israelis darauf bestehen, dass wir „eine Villa im Dschungel“ bewohnen, wie Ehud Barak es einmal formulierte. Oder wir bemühen uns, einen passenden Platz in der neuen Realität zu finden.
Frieden mit den Palästinensern wird dann nicht länger Luxus, sondern eine absolute Notwendigkeit sein. Ebenso wie der Frieden mit den demokratischen Massen in der arabischen Welt oder mit den vernünftigen islamischen Kräften, die sich von al Qaida unterscheiden, oder mit den neuen Führern, die im Begriff sind, in Ägypten und überall aufzutauchen.
Uri Avnery ist Schriftsteller und war bis in die achtziger Jahre Knesset-Abgeordneter
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