Es wird kein Wolf bei den Lämmern wohnen

Israel Netanjahus Siedlungsstopp ist ein einziger großer Bluff. Alle Beteiligten wissen das. Auch Barack Obama

Thomas Friedman, Reporter der New York Times, hat eine Idee. Das passiert ihm ziemlich oft, man könnte sagen – zu oft. Er schlägt vor: Die USA kehren dem Nahost-Konflikt den Rücken, und die ganze Welt folgt ihnen. Jeder ist dieses Dramas überdrüssig. Lasst Israelis und Palästinenser doch ihre Probleme allein lösen! Das klingt vernünftig. Warum soll sich die Staatengemeinde weiter mit zwei ungezogenen Kindern herumärgern?

In Wirklichkeit handelt es sich um einen ungeheuerlichen Vorschlag. Weil diese beiden Kinder nicht gleich stark sind. Israel ist materiell hundertmal, genau genommen tausendmal stärker als die Palästinenser. Die viertstärkste Armee der Welt beherrscht das Leben eines hilflosen Volkes, und die israelische Wirtschaft mit einigen der fortschrittlichsten Technologien weltweit dominiert ein Volk, dessen Ressourcen gleich Null sind. Eine 42 Jahre anhaltende Besatzung erfasst jeden Winkel des besetzten Palästina.

Dies ist keinem Wunder zu verdanken. Die gewaltige Kluft zwischen den Kräften beider Völker ist durch die Unterstützung der USA für Israel entstanden. Milliarden Dollar an jährlichen Hilfen, Zugang zur besten Militärausrüstung der Welt, politische Immunität durch das sichere US-Veto im Sicherheitsrat – dies und die anderen Arten von Beistand haben Israels Regierungen sukzessive geholfen, die Besatzung aufrecht zu erhalten und zu intensivieren.

Friedman schlägt denn auch nicht vor, diese Unterstützung aufzukündigen. Wenn er empfiehlt, die USA sollten sich herausziehen, sagt er tatsächlich: Lasst die israelische Regierung tun, was sie tut – die Besatzung fortführen, Siedlungen bauen, mit der mörderischen Blockade fortfahren, den anderthalb Millionen Palästinensern im Gazastreifen fast alles zum Leben Notwendige verweigern.

Die ganze Welt applaudiert

Der Prophet Jesaja beschreibt eine Situation, in der das Lamm neben dem Wolf liegen soll. (Kein Problem, vorausgesetzt, jeden Tag wird ein neues Lamm gebracht.) Nun schlägt der Prophet Thomas Friedman vor, der Wolf und das Lamm sollten ihre Probleme untereinander regeln. Benjamin Netanjahu dürfte sich in seinen Träumen nichts Besseres wünschen, auch wenn er derzeit sehr damit zufrieden sein kann, wie Präsident Obama seinen letzten Trick akzeptiert und verdaut hat.

Mit gequältem Gesicht stand Netanjahu vor seinem Volk und sprach von der unmenschlich schwierigen Entscheidung, die Siedlungsbauaktivitäten zu suspendieren. Die ganze Welt applaudiert. Wunderbar! Er opfert seine heiligsten Prinzipien auf dem Altar des Friedens, er hat einen phantastischen Schritt getan – nun ist es an den Palästinensern, mit einer großzügigen Geste zu reagieren.

Man hätte vermuten können, dass nach einer so dramatischen Ankündigung ihres Premiers die Siedler ohrenbetäubend Alarm schlagen, Unruhen auf den Straßen ausbrechen, der Zugang zu den besetzten Gebieten blockiert wird, eine Rebellion der Siedler in Kabinett und Knesset unausweichlich ist. Nichts dergleichen geschieht. Kultusministerin Limor Livnat öffnet ihr großes Mundwerk und erklärt lediglich, die Obama-Regierung sei „schrecklich“. Außenminister Lieberman stimmt für Netanjahus Entscheidung, und auch der extremistische Likud-Minister Benny Begin, Sohn des einstigen Ministerpräsidenten, kann sich damit identifizieren. Er wird im Fernsehen klar und deutlich – einen Grund, dagegen zu sein, gebe es nicht. Schließlich handle es sich nur um eine Geste zur Beruhigung von Obama. Sie habe keinen wirklichen Inhalt. Das Bauen „öffentlicher Gebäude“ gehe weiter (etwa 300 neue Wohnungen sind allein vergangene Woche genehmigt worden). Der Bau von Häusern, deren Fundamente schon gelegt seien, gehe auch weiter (mindestens 3.000 Wohnungen in der Westbank). Was Benny Begin nicht erwähnt: Es gibt absolut keine Begrenzung bei der Errichtung jüdischer Gebäude in Ostjerusalem, wo jetzt an einem halben Dutzend Örtlichkeiten mitten im arabischen Stadtteil rasant weitergebaut wird. Und abgesehen davon: Die „Baupause“ dauert nur zehn Monate. Danach, so Benny Begin, werden alle Projekte mit neuem Schwung wieder aufgenommen.

Aber auch diese würde die Siedler kaum beruhigen, wüssten sie nicht, was jeder Israeli weiß: Das Bauen wird überall im Stillen weitergehen unter den geschlossenen Augen der Armee. Man wird behaupten, dass es schon Baugenehmigungen gebe und die Grundmauern längst stehen. So war es in der Vergangenheit unter den Regierungen von Labor, Likud und Kadima – so wird es künftig sein. In dieser Woche wurde bekannt, dass in der gesamten Westbank 14 Regierungsinspektoren Bauaktivitäten überwachen.

Der Friedhof ist voll

Und Obama? Er kapituliert noch einmal. Nachdem er seine ursprüngliche Forderung eines völligen Siedlungsstopps aufgegeben hat, bleibt ihm keine andere Wahl, als erneut nachzugeben. Er reagiert auf die schäbige Vorführung Netanjahus, als ob der ein großes Drama zeige. Obama braucht ein Erfolgserlebnis. Es wird gesagt, er habe bis jetzt keinen wirklichen Erfolg in der internationalen Arena zu verbuchen. Hier nun endlich kann er ihn vorweisen: Netanjahus Einfrieren – pardon, Einschränkungen der Siedlungsaktivitäten.

Mein Vater lehrte mich in meiner Jugend, dass man einem Erpresser nie nachgeben soll. Wer es einmal tut, ist dazu verurteilt, immer wieder nachzugeben, obwohl die Forderungen des Erpressers immer größer werden. Wenn er einmal der Israel-Lobby nachgegeben hat, muss Obama ihr immer wieder Konzessionen machen.

So sahen wir denn, wie der arme Unterhändler George Mitchell – der Mann vermittelte zwischen mörderischen Fraktionen in Irland einen Frieden – nach Jerusalem kam. Er kam als Vertreter der einzigen verbliebenen Weltmacht, um Israelis und Palästinensern zu sagen, was sie tun müssten. Er war zäh. Er diktierte Termine, doch Israels Diplomaten lachten hinter seinem Rücken. Sie sind an solche Leute gewöhnt. Man hat sie schon zum Frühstück verspeist. Erinnert man sich an den großen Henry Kissinger? Oder an James Baker, der versuchte, Israel wirtschaftliche Sanktionen aufzuerlegen? Und an Bill Clintons „Richtlinien“? Und an die „Vision“ des George W. Bush? Der politische Friedhof ist voll mit Amerikanern, die versuchten, Israel in die Schranken zu weisen, ohne bereit zu sein, die nötige Macht auszuüben. Willkommen, George! Schön, Dich zu sehen, Hillary!

Offene oder heimliche Bautätigkeit

Das Paradoxe daran ist, dass Netanjahu Obama nicht einmal täuscht. Der US-Präsident weiß genau – das ist nichts weiter als ein Spiel. Kein sehr intelligentes, auch kein mutiges. Für das Linsengericht eines angeblichen Erfolges hat Obama sein politisches Prestige verkauft. Aber es kann sich rösten, selbst George W. Bush erhielt von Ariel Sharon die Zusage, alle Siedlungen würden aufgelöst, die nach dem 1. März 2001 entstanden. Unnötig zu sagen, dass nichts davon eingehalten wurde.

Netanjahu versucht nicht einmal, die Palästinenser zu täuschen, weil er weiß, wie ihm das misslingen würde. Jeder Palästinenser muss nur aus dem Fenster schauen, um zu sehen, was dort geschieht. Schließlich wird Israel keine Milliarden in neue Gebäude investieren, wenn es beabsichtigt, die Siedlungen innerhalb von ein oder zwei Jahren um des Friedens willen wieder abzureißen.

Es gibt kaum noch einen Ort in der Westbank, von dem aus keine Hügelkuppe zu sehen ist, auf der eine Siedlung steht. An manchen Stellen lassen sich gar zwei oder drei ausmachen. Kommt man näher, sieht man, wie die Bautätigkeit offen oder heimlich in vollem Gange ist, die „legale“ wie die „illegale“. Und während der Bau von jüdischen Hausprojekten voranschreitet, werden zugleich palästinensische Häuser zerstört, um Jerusalem zu „judaisieren“.

Wenn die Amerikaner von den Palästinensern unter diesen Umständen verlangen, sie sollten auf Netanjahus „bedeutenden“ Schritt mit einem eigenen bedeutsamen Schritt reagieren, dann ist dies nichts als ein trauriger Witz.

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