Mahmud Abbas und die Gunst der Stunde

Israel/Palästina Bald auf getrennten Wegen? - Bush und Sharon nach Arafat

George W. Bush umgibt mehr als nur ein Hauch von Wildwest-Mythos. Er sieht sich gern als Sheriff, der schnell zieht, um die Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten. Tatsächlich aber ist er einer anderen Westernfigur viel ähnlicher: Dem Verkäufer der Wundermedizin, die alles heilt - Kopfschmerzen, Cholera und Impotenz, Schusswunden und Herzattacken. Die Bush-Wundermedizin heißt Demokratie: Sie soll alle Gebrechen des Nahen Ostens, überhaupt der ganzen Welt, heilen. Wenn nur die muslimischen Nationen die Medizin kaufen würden, wären alle Probleme gelöst, vor allem der israelisch-palästinensische Konflikt.

Weil Israel bereits eine beispielhafte Demokratie ist, geführt von dem großen Demokraten Ariel Sharon, geht es eigentlich nur noch darum, den Palästinensern Demokratie zu verordnen und in den Autonomiegebieten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abhalten zu lassen. Ein Politiker wie George Bush braucht nun einmal einfache Lösungen - was gut ist für seine kleine Stadt in Texas, muss auch gut sein für Bagdad und Gaza.

Seit der Wiederwahl steigt das Selbstbewusstsein des amerikanischen Präsidenten. Er hat den glücklosen Colin Powell relegiert, so dass demnächst eine notorische Opportunistin das Außenministerium führen und niemand mehr die Entscheidungen des Weißen Hauses in Frage stellen wird - auch dann nicht, wenn George W. Bush sein Pferd zum Obersten Richter ernennt.

Auf dem falschen Fuß erwischt

Wer also sollte sich noch Sorgen machen? Vorrangig Ariel Sharon, Bushs Freund, Lehrer und Wegweiser. Einem Wink des Schicksals gleich errang Bush seinen großen Sieg am 2. November einen Tag vor der so plötzlichen wie mysteriösen Verschlechterung des Gesundheitszustands von Yassir Arafat. Wenig später wurde Sharons bisheriges Alibi in Ramallah beigesetzt.

Israelische Regierungen schätzten es, Arafat als Monster zu präsentieren und das selbst fabrizierte Bild als Vorwand zu nehmen, einen möglichen Frieden zu unterlaufen. Denn Frieden könnte bedeuten, dass Israel sich hinter die Grenzen von 1967 zurückziehen und seine Siedlungen auflösen muss. Frieden könnte auch bedeuten, Ostjerusalem aufzugeben und damit mehr als die Hälfte der "ewigen Hauptstadt Israels". Deshalb die Dämonisierung von Arafat. Mit einem Monster kann man schließlich keinen Frieden schließen. Selbst Bush hatte das verstanden.

Nun ist Arafat nicht mehr da, Bush wiedergewählt und Sharon in großer Not. Denn seit drei Jahren hieß das unablässig repetierte Mantra in Washington: Wir müssen den internationalen Terrorismus bekämpfen. Diese Priorität lag ganz auf der Linie Sharons - auch er ritt auf dem Pferd des Anti-Terrorkampfes. Nun allerdings könnte für die nächsten vier Jahre das Motto in Washington lauten: Demokratie im Nahen Osten, dafür bürgt auch Mahmud Abbas (Abu Masen), der seinerseits das Demokratiepferd reitet. Der neue Vorsitzende der PLO trägt Anzug und Krawatte, keine Uniform. Er sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher demokratischer Führer und lehnt die Selbstmordattentate entschieden ab. Entgegen aller israelischen Prophezeiungen vollzieht sich der palästinensische Machtwechsel weitgehend so, wie man das von einem zivilisierten Land erwartet - in fünf Wochen soll es Wahlen geben.

All das trifft Sharon auf dem falschen Fuß. Würde er sich Wahlen in den Autonomiegebieten widersetzen, wäre das ein Affront gegen Bush. Sollte die israelische Armee mit Straßenblockaden oder gezielten Attentaten intervenieren, dürfte das im Weißen Haus viel Zorn heraufbeschwören. Ein Alptraum für Sharon, denn momentan sieht es tatsächlich so aus, als würde die Abstimmung stattfinden und Mahmud Abbas zum neuen Präsidenten küren. Für Bush ein großer Erfolg: Die erste arabische Demokratie wäre auf den Weg gebracht. Selbst wenn im Irak die Anarchie regiert - Palästina würde beweisen, dass seine Vision Wirklichkeit werden kann. Folglich wird George Bush Mahmud Abbas unterstützen, so dass sogar der Weg für einen "freien palästinensischen Staat" innerhalb von vier Jahren geebnet sein könnte.

Für Sharon gibt es keine größere Gefahr. Sein Plan, 58 Prozent der West Bank zu annektieren, wäre nicht mehr auf der Tagesordnung. Noch schlimmer: Die exklusiven Beziehungen zu Bush würde so nicht mehr bestehen, aus dem Paar würde ein Dreieck. Doch zu dritt ergeben sich ganz andere Konstellationen - ein Treffen zwischen Condoleezza Rice und Mahmud Abbas ist bereits angekündigt.

Was könnte Sharon tun? Selbstverständlich muss Mahmud Abbas weichen, bevor er Wurzeln schlägt. Klar ist aber auch, dass der israelische Premier nicht mit offenem Visier kämpfen kann, wenn er Bush mit dem magischen Wort Terrorismus auf seiner Seite halten will. Schon vor dem Tod von Arafat ließ Sharon wissen, es werde keine Verhandlungen mit einem Nachfolger geben, falls der nicht in der Lage sei, den Terror zu beenden. Da nicht einmal Arafat - trotz seiner Autorität - Hamas und Dschihad entwaffnen konnte, gibt es auch keinerlei Aussicht, dass Mahmud Abbas dazu in der Lage sein könnte.

Noch kann einiges passieren

Doch werden die Amerikaner nicht mehr ohne weiteres in diese primitive Falle laufen, so dass Sharon zu subtileren Mitteln greifen muss. Noch vor einer Woche kündigte er an, nicht mit Mahmud Abbas sprechen zu wollen, solange nicht in allen palästinensischen Medien und Schulen die Verleumdungen Israels unterbunden seien. Sharon hätte Mahmud Abbas auch bitten können, den Mond auf die Erde zu holen. Wie kann der neue PLO-Vorsitzende die Rede- und Pressefreiheit abschaffen, während die Demütigung der Palästinenser in Israels Medien auf Hochtouren läuft - ganz zu schweigen von der Hochstimmung über Arafats Tod. Und warum sollten die Schulbücher - die meisten stammen aus Ägypten und Jordanien - innerhalb von zwei Monaten ausgetauscht werden, während in israelischen Schulen das Recht des palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat ignoriert wird.

Zwar hat Sharon inzwischen durchblicken lassen, sich nach den Wahlen im Januar möglicherweise doch mit Abbas treffen zu wollen, doch zuvor könnte etwas Drastisches passieren, ein Terroranschlag zum Beispiel, für den der neue PLO-Vorsitzende verantwortlich zu machen wäre. Anarchie in den besetzten Gebieten wäre eine weitere Option.

Mahmud Abbas weiß, dass Sharon nach einer solchen "Lösung" sucht, und versucht alles, sie zu verhindern. Weil ihm Zwangsmittel nicht zur Verfügung stehen, bleibt nur die Überredungskunst. Die traditionelle arabische Methode heißt Ijmah - permanente Diskussionen bis schließlich jeder überzeugt ist. Wenn das gelingt, könnten bis zu den Wahlen die Waffen schweigen. Das entscheidende Problem freilich wäre dadurch nicht gelöst: Solange die Besatzung anhält, kann auch ein neuer PLO-Vorsitzender sein Volk nicht überzeugen, die Intifada aufzugeben. Mit anderen Worten: Wenn die Amerikaner ernsthaft wollen, dass sich die neue palästinensische Führung etabliert, müssen sie für einen unverzüglichen Verhandlungsbeginn sorgen, und das mit dem klar ausgesprochenen Ziel, einen palästinensischen Staat innerhalb eines strikten Zeitregimes zu begründen.

Dass Sharon ein solches Szenario durchkreuzen will, steht außer Frage - er wird alles tun, um eine "moderate" palästinensische Führung zu diskreditieren. Sein natürlicher Verbündeter heißt Hamas - sein Feind Nr. Eins seit kurzem Mahmud Abbas.


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