"Bist du verrückt geworden? Er ist doch irrelevant! Es ist vorbei mit ihm!" Das waren einige der Reaktionen, die ich hörte, nachdem das israelische Fernsehen über mein Treffen mit Arafat in Ramallah berichtet hatte.
Ist es tatsächlich vorbei mit ihm? Wenn es so ist, dann hat zumindest er noch nichts davon gehört, denn ich fand ihn in glänzender Verfassung. In den vergangenen Jahren schien er bei unseren Treffen häufig müde, distanziert und mit sich selbst beschäftigt. Aber dieses Mal sprach er energisch und reagierte schnell und scharfsinnig. Als wir zum Beispiel über Sharons Forderung sprachen, dass der neue Premier Abu Abbas Massenverhaftungen vornehmen solle, lachte er: "Wie soll das vor sich gehen? Die Israelis haben alle unsere Gefängnisse zerstört, bis auf das eine in Jericho."
Seit Beginn der neuen Intifada hing sein Leben oft an einem seidenen Faden. Jederzeit hätte Sharon seine Leute schicken können, um ihn zu töten. Im Augenblick mag diese Gefahr nicht besonders groß sein, auch wenn Arafat nach wie vor sein Quartier in Ramallah inmitten von surrealistisch anmutenden Ruinen nicht verlassen darf. Aber während der zurückliegenden 45 Jahre ist sein Leben häufig in Gefahr gewesen, es gab Dutzende von Attentaten. Einmal kamen bei einer Bruchlandung seines Flugzeuges mehrere Mitglieder des Begleitschutzes ums Leben. All das hat er überstanden, auch den Hausarrest und die Panzer seit 2002. Nicht zuletzt deshalb ist sein Ansehen unter den Palästinensern heute größer als je zuvor. Kurioser Weise war die Berufung des Premiers Abu Abbas darauf nicht ohne Einfluss - im Kalkül von Bush und Sharon sollte der PLO-Vorsitzende dadurch verdrängt werden, bewirkt wurde genau das Gegenteil.
Um das verstehen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass es im Westen bekanntlich eine ausufernde Kampagne gab, um Arafat zu dämonisieren. In den zehn Jahren seit Oslo ist er in den israelischen Medien - und das wurde in Europa häufig und gern kolportiert - systematisch als Terrorist, Tyrann, Diktator und Betrüger denunziert worden. Als eine anachronistische Figur, die es fertig gebracht hat, die konzilianten Angebote von Ehud Barak und Bill Clinton bei den Camp-David-Gesprächen vor drei Jahren abzulehnen, was einmal mehr bewiesen habe, dass er Israel noch immer zerstören wolle. Wer diese Propaganda verbreitet, kann natürlich nicht verstehen, weshalb die Palästinenser diesen Mann verehren. Die Antwort lautet: Aus genau den gleichen Gründen! Die Mehrheit im Westjordanland und in Gaza betrachtet Yassir Arafat als einen mutigen Führer, den auch die widrigsten Umständen nicht verängstigen können, wenn es darum geht, fundamentale Rechte der Palästinenser zu verteidigen - notfalls auch gegen die Führer der arabischen Welt.
Wie alle anderen Araber auch bewundern die Palästinenser persönlichen Mut. Unter Bedingungen, wie sie eher selten einem Führer dieser Welt zuteil werden, hat Arafat seinen Mut bewiesen - das ist die Quelle seiner Autorität auch unter den Kritikern. Diese Autorität ist entscheidend für die politische Durchsetzungsfähigkeit von Abu Abbas, der anders als Arafat im Westen durchaus populär ist. Er verspricht Mäßigung und Kompromisse und zeigt damit das Gesicht, das der Westen - vor allem Amerika - sehen will.
Abu Abbas wird mittlerweile von der palästinensischen Öffentlichkeit akzeptiert. Wäre eine andere Person unter solchen Umständen ins Amt gekommen, hätte man sich schnell auf einen Korruptionsverdacht verständigt. Aber Abu Abbas ist als palästinensischer Patriot bekannt und wird als ein Gründer der Fatah-Bewegung respektiert, nur fehlen ihm Züge eines charismatischen Führers, der sich zugleich auf eine stabile politische Basis stützen kann. Daher braucht er Yassir Arafat und dessen verlässliche Unterstützung, um Zugeständnisse gegenüber Israel machen und im eigenen Land energisch handeln zu können. Mehr als jemals zuvor wird Arafat damit zur entscheidenden Person, wenn es Fortschritte auf dem Weg zum Frieden geben soll.
Aber will Arafat wirklich Frieden? Die meisten Israelis können sich das natürlich nicht vorstellen. Wie sollten sie auch, die wahre Geschichte haben sie nie gehört. Aus persönlicher Erfahrung kann ich folgendes sagen: Nach dem Oktoberkrieg von 1973 kam Arafat angesichts der Niederlage, die Ägypten und Syrien mit ihren Armeen nach anfänglichen, unerwarteten Erfolgen hinnehmen mussten, zu der Schlussfolgerung, dass es keine militärische Lösung geben könne. Wie üblich beförderte diese Erkenntnis eine schnelle und einsame Entscheidung. Er instruierte seinen treuen Gefolgsmann Sa´id Hamami, in London einen Artikel zu publizieren, in dem ein Friedensschluss mit Israel auf politischem Wege gefordert wurde. Für mich seinerzeit ein Anlass, Hamami heimlich zu treffen und fortan Arafats Schachzüge genau zu verfolgen.
Für die palästinensische Nationalbewegung war die damalige Revision der Strategie schwer zu verdauen: Statt ausschließlich auf bewaffneten Kampf zu setzen, sollte es nun um einen politischen Prozess gehen, um einen Friedensschluss mit Israel, das doch 78 Prozent des palästinensischen Landes besetzt und etwa die Hälfte des palästinensischen Volkes vertrieben hatte. Dieser Umschwung erforderte eine geistige und politische Revolution - und seit 1974 hat Arafat genau die gefördert, vorsichtig, aber entschlossen. Ich habe das Schritt für Schritt verfolgt, zunächst in Kontakt mit Sa´id Hamami, später in Tuchfühlung mit Arafat. 1988 dann hat der palästinensische Nationalrat diese politische Maxime explizit akzeptiert, nachdem es zuvor noch ambivalente Resolutionen gab. Von Beginn an war Abu Abbas mit diesem Prozess eng verbunden.
Auf der anderen Seite haben sich Yitzhak Rabin und Shimon Peres dieser Entwicklung widersetzt. Wofür ich die Hand ins Feuer legen kann, weil ich mehrfach Botschaften von Arafat an Rabin überbracht habe. Um der geschichtlichen Wahrheit willen muss klar gesagt werden: Nicht Rabin und Peres waren die geistigen Väter von Oslo, sondern Arafat und Abu Abbas. Deshalb auch war die Verleihung des Friedensnobelpreises nur an Peres eine große Ungerechtigkeit.
Sharon will natürlich überhaupt keinen Frieden, der zu einem lebensfähigen palästinensischen Staat in den besetzten Gebieten und zu einer Evakuierung israelischer Siedlungen führen würde. Aber er ist politisch erfahren genug, um den vom Westen protegierten Abu Abbas nicht offen zu brüskieren. Deshalb konzentriert er seine ganze Kraft darauf, Arafat zu brechen - in der Gewissheit, dass ein Abu Abbas ohne Arafat keinen Erfolg haben kann. Ohne Arafat gibt es keinen Frieden. Und eben deshalb habe ich ihn besucht.
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