Die Klage ist alt, der Appell mitunter heuchlerisch. Wird nach „den Intellektuellen“ gerufen, schwingt bereits der Verdacht mit, sie böten ohnehin nur den Picaro vor gehörlosem Publikum. So in Thomas Assheuers Strafpredigt im vergangenen November, in der er kämpferische Verteidigungsgesten für Europa einforderte, wohl wissend um die beschränkte Kompetenz solcher Verlautbarungen. Die Intellektuellen, stimmte zuletzt Harald Welzer in diesen Chor ein, überließen die Zeitdiagnosen nur Technokraten und Experten. Als ob deren moralischer Kitt den Boden der Tatsachen befestigte.
Einer nun hat das „dröhnende Schweigen“ gebrochen. Nach dreijähriger selbst auferlegter Zurückhaltung, wie er schreibt, hat der aus Dresden stammende Schriftsteller Ingo Schulze ein Signal in den Dunkelraum gesandt. In der Süddeutschen Zeitung will er sich erklärtermaßen „selbst wieder ernst nehmen“ und dem „offensichtlichen Wahnsinn“ begegnen. Seine Zeitdiagnose handelt von einem schon postdemokratischen Zeitalter, in dem eine Minderheit das Gemeinwesen „schwer schädigt“ und einer politischen Oligarchie, die, statt das Vertrauen des Souveräns zurückzugewinnen, um das der Märkte buhlt, in einer „Sprache der Selbstgewissheit“, die nicht mehr imstande sei, „die Wirklichkeit zu erfassen“ und die sich „an keinem Gegenüber mehr überprüft und relativiert“. Dem Kapitalismus (der immerhin wieder so genannt werden darf), ermangele es inzwischen selbst an rudimentärstem „Selbsterhaltungstrieb“, sein Raubzug sei allumfassend geworden und könne sich eigentlich nur noch in einem großen Krieg entladen.
Tragödientheorie
Man kann Ingo Schulze in den meisten Punkten Recht geben, gerade, weil es sich um unverhandelbare „Gemeinplätze“ handelt, um die er weiß. Gerade ihm sind ehrliche Absicht und brennender Furor nicht abzusprechen. Was an seiner Einmischung irritiert, ist die Zielgerade. Denn der knapp 50-jährige Autor operiert mit einem Werkzeug und einem Sinnhorizont, die an eine Zeit erinnern, in der die Gebildeten ihrer eigenen Selbstaufhebung zu entgehen suchten, indem sie sich mit „Entschlossenheit“ den „nackten Tatsachen“ stellten, in einer Art Notstandslogik, die entweder Untergang oder apokalyptischen Übergang heraufbeschwor. Die Rede ist von der Weimarer Republik und ihren Intellektuellen.
Schulzes Ausgangspunkt ist die „Krise“, ein aus der Medizin beziehungsweise der Tragödientheorie in die Politik transponierter Begriff. Als kathartischer Höhepunkt leitet er die Wende auf der Bühne ein, im medizinischen Diskurs folgt aus dem in der Krise erlittenen Leiden Erkenntnis und Umkehr, Krise impliziert aber auch die Möglichkeit gesteigerten oder neuen Lebens: Gemeinsam ist allen diesen Konnotationen das Moment der „Entscheidung“ zwischen zwei auf den „Augenblick“ gestellten Zuständen. Wobei ersterer mit Gefährdung und Angst verbunden ist, der darauf folgende mit dem absoluten Nichts, dem Tod oder einer Erlösung.
Der Philosoph Karl Jaspers hat 1932 in seiner Schrift Die geistige Situation der Zeit dieses „Krisenbewusstsein“, die „Stimmung der Gefahr“ in der in der Agonie liegenden Weimarer Republik präzise analysiert: „Der Mensch fühlt sich bedroht“, ein „spezifisches Gefühl der Ohnmacht“ scheint ihn „an den Gang der Dinge“ zu fesseln. Prägnanter könnte man die mentale Lage in der globalen Finanzkrise, in der sich die Menschen „den Märkten“ ausgeliefert und sich von ihnen überwältigt wähnen, kaum beschreiben. Und schon Jaspers erkannte, was heute das politische Feuilleton landauf, landab kolportiert und was auch Ingo Schulze umtreibt: „Krise wird wirklich als der Mangel an Vertrauen.“
Unsicherheit und Ratlosigkeit
Diese Augenblicke der Unsicherheit und Ratlosigkeit erzeugen Spannung. Die alte Welt, der auch von Intellektuellen besungene, scheinbar gezähmte Kapitalismus, ist vom „entfesselten“ in eine scheinbar ausweglose Situation getrieben worden; dem Pol des Wohlvertrauten, Eingewohnten stehen frostige Ungewissheit und unkalkulierbar Neues gegenüber. Zukunftsangst wird zum Kern des Daseins. Ein „dritter Weg“ ist versperrt, eine „sozialistische Entscheidung“, die den Weimarer Kulturkritikern noch offen stand, scheint mit dem Verlust der alternativen Folie, die den Raubtierkapitalismus jahrzehntelang in Schach hielt, obsolet. Hier helfen keine wohlgesetzten Worte mehr, kein moralischer Appell, keine entkernte Kommunikation: Hier muss entschieden werden, gehandelt.
Der „Nullpunkt“ des Augenblicks drängt zur Entscheidung. Und so extrapoliert auch Ingo Schulze aus der verfahrenen Situation „einfache Fragen“: „Wem nutzt das“, „Wer verdient daran?“ – Fragen, die „unfein geworden“ sind. Die aus dem ideologiekritischen Arsenal stammenden Fragen sind nicht nur einfach, sondern auch vereinfachend, weil sie die Welt auf die wenigen Profiteure und das verlierende „Gemeinwesen“ reduziert: Bei Schulze sind es „die Märkte“, die Finanzmarkthaie und Banken auf der einen Seite, die ausgeraubten Bürger und ausgepowerten Gemeinden auf der anderen. Ungeachtet des aufklärerischen wahren Kerns, der in diesen Fragen aufscheint, wird das komplexe Geschehen vereinfacht durch die Bestimmung von Gut und Böse, Tätern und Opfern, und die (Er-)Lösung in den Möglichkeitshorizont verschoben: Letztlich, schreibt Schulze, ginge es doch nur um die eine Frage: „Was wollen wir für eine Gesellschaft?“
Doch wer ist dieses rhetorisch aufgeladene „Wir“? Sich vor portugiesischem Publikum als Repräsentant eines omnipotenten, das übrige Europa strangulierenden Staates verteidigen zu müssen, hat den Autor erkennbar aufgestört. Es ginge doch nur um „oben und unten“, sagt der Klassenkämpfer. Und entwickelt plötzlich einen neuen Glauben in die Politik, die imstande wäre, „die Akteure an den Märkten, vor allem den Finanzmärkten in Bahnen“ zu zwingen, „die mit den Interessen des Gemeinwesens“ vereinbar wären.
Die Nagelprobe
Aus dem Käfig der Interessen des entfesselten Kapitalismus zu fliehen und die Moderne in der „Gemeinschaft“ aufzuheben, war ein vordringliches Projekt der konservativen Kulturkritik der zwanziger und dreißiger Jahre. Ihre Weckrufe an die Bewohner im „stahlharten Gehäuse“ waren Versuche, die eigene Fassungslosigkeit und Ohnmacht zu überwinden. Doch dieser heroische Radikalismus, der messerscharf zwischen Freund und Feind unterschied, beschränkte sich keineswegs nur auf die „Männer auf verlorenem Posten“ auf der politischen Rechten, die das Ausbleiben neuer Führer beklagten, sondern zog sich durch die gesamte politische Kultur der Weimarer Republik und schuf Zwillinge im Geiste der neuen Gemeinschaftslehren.
Aber so „freischwebend“ und autonom, wie der Soziologe Karl Mannheim die „Wächter in finsterer Nacht“ beschrieben hat, sind die Intellektuellen längst nicht mehr. Selbst einem der Teilmärkte ausgeliefert – ob der zum Unternehmen mutierten Universität oder dem „freien“ Markt –, werden sie von der Verwertungslogik kujoniert. Es gehörte zu den großen Mythen der Gegenwart, schrieb Konrad Paul Liessmann in der Zeitschrift INDES, „dass Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller eine besondere Verantwortung gegenüber der Welt hätten. Diese teilen sie aber lediglich mit allen Menschen, die guten Willens sind.“ Das Wissen um die prekären intellektuellen Lagen und Integrität sind Schulze nicht abzusprechen. Doch die auf den exzeptionellen Augenblick zusammengeschrumpfte Situation zeitigt beunruhigende dezisionistische Denkfiguren und Redeweisen. „Wo der Mensch in einer Sache ganz er selbst ist“, gibt Jaspers mit auf den Weg, „gibt es für ihn ein Entweder-Oder. Er will die Dinge auf die Spitze treiben, um zur Entscheidung zu kommen.“ Ob aus einer derartig angeordneten Krise verhandelbare Perspektiven aufscheinen, steht dahin.
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