Selten wohl ist eine Rede so sehr missverstanden worden und war so sehr darauf angelegt, missverstanden zu werden, wie die Rede Martin Walsers anlässlich des an ihn vergebenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998. Damit meine ich nicht das Missverständnis, von dem Ignatz Bubis in seiner berühmten Kritik an Walser im Dezember 1998 sprach. Bubis' Rede vom »Missverständnis« war auf eine mögliche Verständigung mit Walser aus. Walser sollte klarstellen, dass er mit der Metapher vom »Wegsehen« angesichts der »Schande« von Auschwitz die alte rechtsradikale und die neue »Schlussstrich«-Szene nicht habe ermuntern wollen. Wenn Walser dagegen im Gespräch mit Bubis darauf beharrte, nicht oder zumindest doch von den meisten seiner Zuhörer und zahllosen zustimmenden Briefschreiber nicht missverstanden worden zu sein, so ist dies meines Erachtens nicht von der Hand zu weisen. Walser wollte provozieren, er wollte die Vermittlung von Bubis nicht, und es lässt sich sehr gut zeigen, dass der Dissens sehr viel tiefer reichte, als Bubis dies bei seiner Aufforderung zum Gespräch wahrhaben mochte. Das Problem liegt meiner Meinung nach nicht darin, dass Walser als Angehöriger der intellektuellen Elite der Bundesrepublik indirekt die Deutschen zum Vergessen ermunterte. Das von Bubis nur an der Oberfläche berührte, aber sehr wohl wahrgenommene Problem scheint mir darin zu liegen, dass Walser eine Ontologisierung der deutschen Schuld vornahm, die die Deutschen auf besondere Weise auszeichnet und sie auf besondere Weise von allen »Fremden«, insbesondere aber von den Juden in Deutschland durch eine tiefe und eigentlich niemals zu heilende Kluft trennt.
Das eigentliche Missverständnis der Walserschen Rede liegt also gerade nicht zwischen Walser und einer kleinen Minderheit Rechtsradikaler, sondern zwischen Walser und jener zweifellos nicht kleinen Zahl von Deutschen, die sich durch dessen Rede zu einem unbefangenerem Umgang mit dem »nationalen« Charakter der Deutschen ermuntert gesehen haben könnten. Gerade diese Entlastung leistet Walser nicht - beziehungsweise er leistet sie auf eine Art, die vielen seiner Verteidiger möglicherweise gar nicht recht sein und viele seiner Kritiker ob ihrer Kompromisslosigkeit noch tiefer erschrecken könnte.
Walser nimmt in seiner Rede, um sich »vor weiteren Bekenntnispeinlichkeiten zu schützen«, zur Erläuterung seines Verständnisses von »Gewissen« zu - wie er es formuliert - »zwei Geistesgrößen« Zuflucht, »deren Sprachverstand nicht anzuzweifeln ist«, zu Heidegger eben und - erstaunlicherweise - zu Hegel. Keiner von Walsers Verteidigern oder Kritikern hat sich - soweit ich sehe - bislang mit den durch diese philosophischen Namen angesprochenen Bedeutungskontexten auseinandergesetzt. Ganz ohne Zweifel aber erhellen diese Kontexte, worum es Walser zu tun ist und worum nicht.
Das bei Heidegger gefundene konstitutive Element des Menschlichen - schuldig zu sein - hat sich für Walser in der deutschen Nation in historisch besonderer und besonders tiefer Weise manifestiert. Die Lage des deutschen Nationalbewusstseins heute erklärt sich für ihn geradezu aus dieser Fallhöhe zwischen dem an sich adäquat tragischen Bewusstsein der Schuld der Nation als solcher und der für den Schriftsteller unerträglichen Situation des »Beschuldigtwerdens«, des »Vorhaltens« unerträglich konkreter einzelner Taten. »Die, die mit solchen Sätzen auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient. Wahrscheinlich wollen sie auch sich selber verletzen. Aber uns auch. Alle. Eine Einschränkung: alle Deutschen.«
Man fühlt sich bei diesen Worten unwillkürlich erinnert an Sartres Interpretation des Heideggerschen Gewissensrufes: »Das empirische Bild, das die Heideggersche Auffassung am besten symbolisieren würde, ist (...) das der Mannschaft. Die ursprüngliche Beziehung des Anderen zu meinem Bewusstsein ist nicht das Du und Ich, sondern das Wir, und das Heideggersche Mit-Sein ist nicht die klare und deutliche Position eines Individuums gegenüber einem anderen, ist nicht Erkenntnis, es ist die dumpfe Existenz in Gemeinschaft, wie ein Mann sie in der Mannschaft führt,....« (Sartre 1982, S. 330)
Wir sehen: Walsers Gewissensthematik führt uns - inkonsequent, aber unaufhaltsam - zu einer sehr substantiellen und immer weiter vertieften Unterscheidung menschlicher Gemeinschaften: »Wir« - die Deutschen -, die das Schicksal hatten, verführbar zu sein und schuldig zu sein und jene anderen, die nicht dazu gehören: Juden vor allem und vielleicht noch einige andere Opfer deutscher Geschichte. So überrascht es denn auch nicht, dass Walser im FAZ-Gespräch mit Buber, Korn und Schirrmacher sich keineswegs der Interpretation abgeneigt zeigt, die Schirrmacher vom frühen in den aktuellen Walser hineinprojiziert: »Walser macht das Erinnern zu einem Gegenstand dieser Nation, dieser Gesellschaft. Er sagte: Die Nation ist verantwortlich, wir alle sind verantwortlich.«
Walsers merkwürdiges Changieren zwischen Heideggerschem existentialistischen Gewissensbegriff einerseits und nationaler Füllung der Idee deutscher Schuld und deutschen Beschuldigtwerdens unter den Nationen andererseits legen nahe, dass er in gewisser Weise eine neue Gestalt substantiellen »Deutschseins« postulieren und als Schriftsteller einholen will. Weit davon entfernt, die jungen Generationen in Deutschland von der Last einer zugeschriebenen Schuld zu befreien, wird bei Walser vielmehr die Schuld zum Anknüpfungspunkt einer neuen, von Selbstmitleid durchdrungenen Definition der Rolle Deutschlands in der Staatengemeinschaft und der Bedeutung deutscher Nationalität. Walsers Definition der deutschen Nation schließt all jene aus, die der deutschen Schicksalsgemeinschaft nicht angehören, weil ihnen die deutsche »Schande« nicht vorgehalten werden kann: Juden, Arbeitsimmigranten, Flüchtlinge.
Nicht nur schließt seine Definition der deutschen Nation viele Menschen (auch wenn sie mit deutschem Pass ausgerüstet sein mögen) eben deshalb aus dem nationalen Diskurs aus, weil sie als Nachkommen der historischen Opfer nicht fühlen können, welche Leiden die Nachkommen der beschuldigten Nation zu leiden haben; vielmehr werden diese »Anderen« auch zur beständig neuen Quelle des Leidens für »die Deutschen«. Ein erstaunliches, ja fast unheimliches Dokument dieser Umkehr von Opfer- und Täterstatus bildet den (negativen) Höhepunkt des bereits mehrfach zitierten Gespräches zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis:
Bubis erzählt von seinem im KZ von ihm getrennten, vor seinen Augen abtransportierten und verschollenen Vater aus der Perspektive des Überlebenden, der nur mit großer Anstrengung und lebensbedrohlicher Erinnerungsangst die historischen Zeugnisse akzeptieren kann. Mit der Wortwahl seiner Entgegnung qualifiziert Walser Bubis' eingestandene quälende Probleme mit dem Erinnern als eine Art Geschäftsproblem ab: »Herr Bubis, da muss ich Ihnen sagen, ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt.« Bubis: »Ich hätte nicht leben können. Ich hätte nicht weiterleben können, wenn ich mich damit früher beschäftigt hätte.« Walser: »Und ich musste, um weiterleben zu können, mich damit beschäftigen.«
Walser hat das Problem des deutschen »Beschuldigtseins« auf adäquate Weise und zum politisch korrekten Zeitpunkt bewältigt; der Jude Bubis mit seiner konkreten und auf peinliche Weise bleibenden Erinnerung jedoch wird ihm zum Ärgernis. Gemeinsames Erinnern ist für Walser nicht möglich.
Möglicherweise ist es implizit die Kritik an der Identifikation deutscher Angehöriger der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration mit den Opfern des Holocaust, die - Walser missverstehend - eine positive Reaktion auf seinen Vortrag in der Paulskirche provoziert hat. Die genauen Ausführungen Walsers kannten die Wenigsten, aber sein Argument, dass es doch dem Gewissen des Einzelnen überlassen bleiben müsse, wie man zur deutschen Vergangenheit stehe, wurde immer wieder aufgenommen. Was kümmerte es dabei schon, dass Walser selbst die Lager sowohl säuberlich trennt, als auch dem Lager der »Beschuldigten« seine kollektive Würde im kollektiven Wissen des allzumenschlichen »Schuldigseins« zurückgibt?
Gesehen wurde wohl nur die trotzige Haltung eines Mannes, der, angesichts welcher fiktiver Gegner auch immer, dagegen antrat, jedem Deutschen alles Schlechte zuzutrauen. Die dabei allseits unterstellte fatale Logik, dass, wer nicht als Opfer anerkannt werde, wohl als Täter beschuldigt sei, ließ dabei zwei wichtige Tatsachen außer acht: erstens die Tatsache, dass auch ohne die Hypothese einer »Erblichkeit« von Schuld oder Leiden eine unterschiedliche Weitergabe und Bearbeitung historischer Erfahrung von »Täter«- und »Opfersein« in den nachfolgenden Generationen tatsächlich bewältigt werden muss und von einer Parallelität nicht gesprochen werden kann. Zweitens muss konstatiert werden, dass es neben Opfern und Tätern auch die Dritten geben konnte, eben die Nicht-Täter.
Wäre es nicht die Aufgabe eines Schriftstellers gewesen, neuen Generationen einen Weg aus dem Täter-Opfer-Dualismus zu zeigen?
Mit seiner Ontologisierung und Stilisierung des deutschen »Schuldigseins« im Hinblick auf eine zu respektierende nationale Befindlichkeit und Empfindlichkeit der Nachkommen Hitlerdeutschlands hat Walser jedoch diesem Anspruch auf eine historische Rede genau nicht entsprochen. Er hat eher das Problem zugedeckt, das sich tatsächlich historisch heute stellt und dem bleibende Aufmerksamkeit gelten sollte: nämlich, ob in einer immer pluraler werdenden Bundesrepublik der Katastrophe des Holocaust in Vorstellungen von Kollektiven der Täter- und Opfernachkommen angemessen gedacht werden kann.
Die Vorstellung der »existierenden« Kollektive verdrängt aber auch, dass der Zivilisationsbruch, den die Menschheit durch die Ermordung der Juden Europas erlitten hat, nicht ein Verlust ist, den ausschließlich ein irgendwie vorgestelltes jüdisches Kollektivganzes zu betrauern hätte, sondern dass es ein unendlicher Verlust für die gesamte europäische Bevölkerung der Gegenwart einschließlich der deutschen ist. Diese Überlegung soll nun freilich nicht auf eine kompliziert dialektische, ja man könnte sagen fast Walsersche Weise die Deutschen zu Opfern stilisieren. Sie will jedoch darauf aufmerksam machen, dass es nach dem Holocaust auch keine naive Vorstellung eines unbeschädigten oder doch irgendwie reparierten Kollektives »der Deutschen« als einer ungebrochenen Kontinuität geben kann.
Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels ist - das zeigt die enorme Breite und Dauer der Resonanz - zweifellos nicht nur von einigen »Ewiggestrigen« begrüßt worden, sondern hat das Bedürfnis vieler Menschen getroffen, nationales Gedenken des Holocaust in einer immer pluraler werdenden deutschen Gesellschaft neu zu definieren. Sein scheinbares Plädoyer für eine Art Gewissensentscheidung ist durchaus auch missverstanden worden als verantwortliche Absage an das Projekt eines dekretierten und oft erstarrten, wenn nicht verlogenen Gedenkens. Statt jedoch den neuen Generationen neue Wege der Aneignung ihrer Geschichte aufzuzeigen, steht hinter Walsers vorgeschobenem Appell an die Gewissensfreiheit im Gegenteil die von Selbstmitleid durchdrungene Fiktion einer deutschen nationalen Schicksalsgemeinschaft, deren Mitgliedschaft eine besondere menschliche Würde verleiht.
Der vollständige Text erschien im Sonderdruck Erziehung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft, Juventa Verlag, 2000
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