Allianz der unbegrenzten Möglichkeiten

Indien/China Eine Partnerschaft mit dem Potenzial, die bisherige Weltordnung aus den Angeln zu heben

Der Gast aus dem Lande des Lächelns verzog keine Miene. Charme schien seine Sache nicht - Hu Jintao wollte weder auf Elefanten reiten noch mit fröhlichen Dorfschönen in leuchtenden rajastanischen Gewändern tanzen. Er saß einfach stoisch neben seinem ebenso stoischen Gastgeber, Premier Manmohan Singh. Nachdem die beiden nüchternen Herren protokollgemäß und tonlos ihre Erklärungen verlesen hatten, blickten sie unverwandt in die blitzenden Kameras und verschwanden, ohne sich auch nur zugenickt zu haben. Die Visite des chinesischen Präsidenten Hu Ende November in Delhi glich keinem Triumphzug der Freundlichkeit. Doch konnte der Mangel an zur Schau gestelltem Enthusiasmus nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein recht bedeutungsvolles Ereignis handelte.

Sprengladungen entschärfen

Es gibt ein altes Foto, das zeigt, wie Ministerpräsident Nehru und der damalige chinesische Premier Tschou Enlai am Neujahrsabend des Jahres 1957 herzlich lachend und mit lustigen großen Brillen auf den Nasen in einem Sonderzug durch das ländliche Indien reisen und einem begeisterten Spalier aus dem Fenster zuwinken. Eine Erinnerung an die Zeit einer großen und vor allem romantischen Völkerfreundschaft, die abrupt endete, als chinesische Truppen 1962 ohne Warnung beim Nachbarn einmarschierten und einen Konflikt aufheizten, der vielen Indern noch heute in den Knochen sitzt.

Mehr als vier Jahrzehnte und fünf protokollgerechte Staatsbesuche später haben Peking und Delhi Schritt für Schritt die pragmatische Partnerschaft von Geschäftsleuten aufgebaut, die beiden von erheblichem Nutzen sein kann - und vom Westen mit angehaltenem Atem beobachtet wird. Sie hat das Potenzial, die bisherige Weltordnung aus den Angeln zu heben.

Es gibt kaum noch Zweifel: Das 21. Jahrhundert gehört Asien. Der simultane Aufstieg der beiden neuen ökonomischen Supermächte lässt sich nicht aufhalten - doch können ihn historische Erbschaften empfindlich stören. Insofern gilt es, Sprengladungen zu entschärfen, bevor man sich auf sicherem Terrain weiß: Indiens taktisches Geplänkel mit Taiwan, Chinas langjährige Militärhilfe für Pakistan zum Beispiel. Oder Pekings kategorisches Nein zur Atommacht Indien im UN-Sicherheitsrat. Auch Delhis neue Freundschaft mit den USA ist dem indisch-chinesischen Verhältnis eher abträglich. Daneben stehen die alten Grenzkonflikte. Zwar bleibt es an der langen Demarkationslinie, die sich durch den zumeist tief verschneiten Himalaya zieht, seit Jahren ruhig, zwar ist seit Juli der Nathu-La-Pass nach 44 Jahren wieder für den regionalen Handel verfügbar, aber die unvermittelt schrille Erklärung, mit der Chinas Botschafter einen Tag vor dem Besuch seines Präsidenten den nordindischen Grenzstaat Arunachal Pradesh als chinesisches Eigentum einklagte, löste Alarm aus.

Peking scheint darauf bedacht, den potenziellen Machtrivalen mit Knebeln und Drohungen niederzuhalten - den lukrativen Handelspartner hingegen mit wohl dosierter Freundlichkeit zu hofieren. Während ihres Treffens signierten Präsident Hu und Premier Singh 13 Verträge und eine Gemeinsame Erklärung, in der viel von stabilen Beziehungen und einem expandierenden Wirtschaftsverkehr die Rede ist. Lag das Handelsvolumen 2006 bereits bei 20 Milliarden Dollar, soll es bis 2010 die 40-Milliarden-Schallmauer durchbrechen. Demnächst wird auch Uran für die zivile Nutzung der Kernenergie im indischen Einkaufskorb liegen, was den linken Flügel der regierenden Koalition begeistert, gewährt dies doch eine gewisse Unabhängigkeit von den Amerikanern, deren Atomvertrag mit Indien weit mehr Nachteile als Vorteile für die eigenen Interessen haben dürfte.

Drache und Elefant

Das Konsumpotenzial der beiden bevölkerungsreichsten Nationen der Erde - sie stellen zusammen etwa ein Drittel der Weltbevölkerung - eröffnet eine Zukunft der geradezu unbegrenzten Möglichkeiten. Indien zählt heute 500 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter, die unter 19 Jahre alt sind, und wird Mitte des Jahrhunderts voraussichtlich auf die Arbeitskraft von 1,6 Milliarden Indern zurückgreifen können, bei entsprechender beruflicher Ausbildung wie einem ausreichenden Angebot an Arbeitsplätzen muss das kein Hindernis für ökonomische Stabilität sein - im Gegenteil. Ähnliche Prognosen gelten China, das seit Mitte der achtziger Jahre Wachstumsraten bis zu neun Prozent vorweisen kann (bei Indien liegt der vergleichbare Durchschnittswert bei sechs Prozent). Eine in beiden Staaten junge Bevölkerung, die einen gewaltigen Bedarf an Gebrauchs- und Luxusgütern entwickelt - das, so prophezeien Wirtschaftsexperten mehrheitlich, garantiere für Jahrzehnte eine krisenresistente Binnenkonjunktur als Basis weltwirtschaftlicher Expansion.

Was für beide Giganten zusätzlich von Vorteil sein dürfte: Sie können einander ergänzen, China wird der Massenproduzent bleiben - Indien als kreativer Anbieter von Technologien, Design, Dienstleistungen und Präzisionstechnik reüssieren. Sollten eines Tages alle politischen Bürden der Vergangenheit aus dem Weg geräumt sein, könnten sich Drache und Elefant zu einer Allianz vereinigen, die für viele bereits jetzt ein Alptraum ist.

Mit der Wirtschaftsmacht wird sich automatisch auch das Forschungszentrum der Welt nach Osten verschieben. Bereits heute graduieren in China und Indien pro Jahr mehr als 500.000 junge Wissenschaftler - in den USA sind es derzeit 60.000. Freilich verdient gleichfalls Beachtung, dass es für die geopolitische Balance nicht folgenlos bleiben dürfte, wie schnell und nachhaltig der Kampf um Energieressourcen und Transportwege zur Existenzfrage für die neuen Supermächte wird.

So könnte alles kommen, aber es muss nicht. Der ökonomische Aufstieg der asiatischen Riesen ist nicht unaufhaltsam, beide Nationen können von vielen Kräften aus der Bahn geworfen werden. Man hört die unverhohlene Häme, mit der Repräsentanten der westlichen Wirtschaftsmächte all die kleinen und großen Katastrophen auflisten, die eintreten und vorhandene weltökonomische Hierarchien zementieren könnten. Vermutlich haben sie in vielem sogar recht. Aber während darüber spekuliert wird, dreht sich die Welt langsam, aber unaufhaltsam nach Osten, ohne dass jemand eine Miene verzogen hätte.


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