Indien bereitet sich auf die landesweite Abstimmung über das künftige Unterhaus Anfang April vor. Obwohl die Regionalwahlen im Dezember gewiss eine zu schmale Basis für zuverlässige Prognosen sind, indizieren sie doch einen klaren Trend: während die Kongress-Partei zum politischen Leichtgewicht abmagert, gewinnt die regierende Bharatiya Janata Party (BJP/Volkspartei) von Premier Atal Bihari Vajpayee an Statur und Macht.
Die Kongresspartei fühlt sich vom Mut der Verzweiflung beseelt, wenn sie darauf hofft, bis zu den Wahlen einen wahrlich kolossalen den Vorsprung der Volkspartei (BJP) noch egalisieren zu können. Den Versuch dazu muss es geben, eine erneute schwere Niederlage könnte den freien Fall in die politische Bedeutungslosigkeit auslösen. Denn die nächste indische Zentralregierung - unabhängig davon, wer sie bildet - dürfte die Weichen für die Entwicklung von Jahrzehnten zu stellen haben: Sie wird die Beziehungen zu Pakistan völlig neu definieren, sie muss die Kaschmir-Bombe entschärfen und den religiösen Extremismus, der das Land zermürbt, endlich in die Schranken weisen. Indien könnte einen Weg einschlagen, an dessen Ende aus dem Schwellenland eine Weltmacht geworden ist, die sich in Asien neben China und Japan platziert.
Göttin im Traum - die "Hinduisierung" der Kongresspartei
Ausgerechnet in dieser Situation hat die Kongresspartei ihr klassisches Profil verloren und zehrt mehr von Erinnerungen an eine glorreiche Vergangenheit, anstatt eine auf die Zukunft gerichtete Politik zu formulieren. Seit 1997 unter der Führung von Sonja Gandhi, der Witwe Rajiv Gandhis, ist die Partei ohne programmatischen Schneid in die Fänge einer Clique von korrupten und machthungrigen Höflingen geraten. Bei den Unterhauswahlen von 1998 und 1999 musste sie die schwersten Niederlagen ihrer Geschichte einstecken - nach Ansicht vieler Beobachter vor allem wegen der Kandidatin für das Amt des Premierministers, Sonja Gandhi.
Versuche, das Blatt zu wenden, haben den Kongress seither an den Rand einer fast schon tragikomischen Metamorphose gebracht. Die Partei ließ sich dazu hinreißen, den Faden abzuschneiden, der alle Phasen ihrer 120-jährigen Geschichte durchlief: das Bekenntnis zur Einheit und Gleichheit aller Menschen jenseits von Religion und Kaste. Die Partei Jawaharlal Nehrus hat - trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse - aufgehört, ein Garant des indischen Säkularismus zu sein. Schlimmer noch, sie versucht, ihre Schwäche mit einer perfiden Strategie der Stärke zu überwinden. Dazu hat sich der Kongress ein Safron-Mäntelchen in den Schrank gehängt, um es in Wahlzeiten überwerfen und als die bessere Hindu-Partei erscheinen zu können. Dieser Kurs hat bei den Regionalwahlen Ende 2003 nicht zum Erfolg geführt, sondern die Wählerschaft eher brüskiert und künftige Allianzen innerhalb einer "säkularen Front" ausgeschlossen.
Digvijay Singh zum Beispiel, ehemaliger Kongress-Chiefminister von Madhya Pradesh, erklärte sich pünktlich zur Wahl in seinem Bundesstaat zum Schutzpatron der heiligen Kühe, die es vor dem Schlachtermesser zu retten gelte. Er zog alle Register hinduistischen Sentiments und verstieg sich zur Forderung nach einem totalen Verbot für die Schaltung von Kühen, das bisher nur in einigen wenigen Bundesstaaten gilt, bei weitem nicht überall in Indien. Singh wollte sogar die Todesstrafe gegen die Schänder und Schlächter von Kühen implementiert wissen. Die "echten" Hindu-Extremisten applaudierten begeistert.
Für ein anderes Exempel sorgte Ajit Jogi - einstiger Chiefminister von Chattisgarh, der zur Eröffnung der Wahlkampagne - in Anwesenheit Sonja Gandhis - erklärte: Die Göttin Danteshwari von Basra habe ihm im Traume befohlen, Tausende von Dorftempeln auf Staatskosten zu renovieren und Priester nur noch mit Steuergeldern zu bezahlen - krasser lässt sich der Hinduismus aus profanen politischen Motiven heraus kaum missbrauchen.
Dabei ging und geht der Kongress nicht zum ersten Mal im Gewande des religiösen Eiferers auf Stimmenfang. Die große Uraufführung der neuen Strategie fand im Dezember 2002 in Staat Gujarat statt. Nach blutigen Massakern an der muslimischen Minderheit wurde dort eine neue Regierung gebraucht, die entschlossen war, dem religiösen Wahn Einhalt zu gebieten, anstatt ihn anzufachen und im Interesse eigener Machtpositionen auszubeuten, wie es die BJP-Regierung von Narendra Modi getan hatte. Obwohl die Rolle des Vermittlers der Kongresspartei wie auf den historischen Leib geschrieben schien, wollte sie diesen Part nicht übernehmen. Man zog es stattdessen vor, seine Muslim-Anhänger zurückzuweisen und um Hindu-Stimmen zu werben. Sonja Gandhi startete gar zu einer PR-Reise zum berühmten Ambaji-Tempel, wo sie zentnerweise Butterfett opferte, das während spezieller religiöser Rituale in der Hoffnung auf gutes Gelingen ins Feuer gegossen wird. Auf all ihren Meetings zeigte sie sich in Begleitung von Hindu-Priestern, die gelegentlich das Mikrophon ergriffen, um ihrer Zuversicht Ausdruck zu geben, dass der Kongress die Träume der Hindus erfüllen werde - in Gujarat wie in Ayodhya. Trotz aller Butter - der Kongress verlor kläglich in Gujarat. Doch blieb der missratene Schulterschluss mit dem religiösen Fanatismus ohne Konsequenzen - die Partei zieht weiter unbeeindruckt mit heiligen Kühen und göttlicher Order in die Parlamentswahlen. Fazit: Religiöse Radikalität hat in Indien ein neues Refugium gefunden.
Auch die BJP wandelt sich - allerdings in entgegengesetzter Richtung -, sie ist bemüht, ideologisches Gepäck abzuwerfen, nach einem säkularen Standort zu suchen und die Liaison mit einstigen allzu fundamentalistischen Hindu-Nationalisten zu lockern. Ihre Wahlkampagne läuft auffallend pragmatisch auf der Schiene "Fortschritt und bessere Lebensbedingungen für alle". Während der Kongress Butteropfer bringt, Tempeldächer und Wiesen für heilige Kühe verspricht, setzt die BJP mit der ostentativen Hinwendung zu Alltag und Lebensqualität auf die klassische Kongress-Linie. Wähler mit einem guten Gedächtnis glauben Indira oder Rajiv Gandhi zu hören - aber es ist Atal Bihari Vajpayee.
Stiller Ausgleich - Moschee und Tempel für Ayodhya
Im November wurde im Hanuman-Tempel der "heiligen Stadt" Ayodhya ein ungewöhnliches Fest gefeiert: Iftar, das Ende der Fastenzeit. Die Hindu-Sadhus servierten ihren muslimischen Gästen Früchte und Joghurt. Ehrengast war der achtzigjährige Mohamed Hashim Ansari, der älteste überlebende Kläger im Gerichtsprozess um das umstrittene Land, auf dem einst die zerstörte Moschee von Ayodhya stand. Die rührende Szene könnte der Beginn einer leisen und friedlichen Lösung gewesen sein. Die Betroffenen - das sind die Kläger auf beiden Seiten und die örtlichen Hindu- und Muslimgemeinden - haben feierlich beschlossen, nicht mehr zuzulassen, dass Ayodhya als Schauplatz blutiger Religionskriege missbraucht wird. Inzwischen hat sich ein Trust gegründet, der ohne jede öffentliche Attitüde den Bau einer Moschee neben dem geplanten Ram-Tempel vorbereitet. Hinter diesem behutsamen Versuch, eine Zeitbombe zu entschärfen, heißt es, stehe inoffiziell das Büro von Premiers Vajpayee.
Dass Parteien zum anderen Ende des politischen Spektrums driften, scheint den indischen Wähler nicht übermäßig zu verwirren. Die alten Bestseller: religiöse Affekte, Kastentreue und Hass auf Pakistan haben viel von ihrer magischen Kraft verloren. Auch die Wählerschaft wandelt sich und mit ihr die politische Atmosphäre.
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