Lufthansa-Stewardess Anita verbringt ihren Neujahrsurlaub im Fischerdorf Alappad in Kerala und hilft dort unter brennender Mittagssonne am Zementmischer auf einer Baustelle aus. Mike, Chef der indischen Niederlassung eines Handy-Herstellers, versucht sich als Toilettenbauer. Die lokale Presse schmunzelt. Die exotisch anmutenden Hilfsarbeiter gehören zu den Baubrigaden der allumarmenden "Muttergöttin" Amrithanandamayi (Amma), die sich im Westen wachsender Beliebtheit erfreut. Ammas Imperium - die Auslandskonten nach dem Tsunami reich geflutet - betreibt nicht nur das Gros der Bauprojekte für Tsunami-Opfer, es weiß diese Unternehmungen auch äußerst werbewirksam in Szene zu setzen. Am ersten Jahrestag des Unglücks übergibt Indiens Präsident Abdul Kalam, selbst Sohn armer Fischer, in Alappad feierlich die Schlüssel der ersten 500 Amma-Häuser. Die Göttin hält in Kerala den Baurekord vor katholischer, evangelischer und hindu-fanatischer Konkurrenz. In Tamil Nadu wurde der Flecken Pudukuppam gar in Amrithanandamayi-Nagar umbenannt.
Der Tsunami vom 26. Dezember 2004 hat die gewaltigste Spendenlawine der Geschichte ausgelöst. Weltweit wurden - aus Staatskassen und privaten Portefeuilles - mehr als zwölf Milliarden Dollar aufgebracht, der Löwenanteil dieser Gelder lag und liegt in den Händen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aller Couleur, die im Gegensatz zu den Organen gewählter Regierungen einzig ihren Geldgebern Rechenschaft schulden. Und selbst die lassen sich oft bluffen - ein Umstand, den viele Tsunami-Opfer auf schmerzhafte Weise erfahren mussten.
Nachdem Ende Januar 2005 die Aufräumarbeiten abgeschlossen waren, akzeptierten - vor die gigantische Mission des Wiederaufbaus gestellt - die betroffenen indischen Bundesstaaten eher zögernd die Hilfe von NGOs, die mit beeindruckenden Finanzen zu winken wussten. Allein Tamil Nadu, mit 8.000 Toten und 130.000 zerstörten Häusern im Landesvergleich am schwersten gezeichnet, entfaltete eine enorme Sogwirkung, der sich Dutzende von NGOs nicht entziehen wollten. Sie boten umgerechnet 720 Millionen Euro an Hilfsgeldern, während der indische Zentralstaat nur das Äquivalent von 200 Millionen Euro aufbringen konnte. Unter dem Eindruck dieser Relation plädierte die Kongress-Regierung von Premier Singh für das Modell öffentlich-privater Partnerschaften und lud NGOs sowie Wirtschaftsunternehmen an einen Runden Tisch, um über Langzeitaufgaben beim Häuserbau, bei Existenzgründungen oder der Rehabilitierung von Opfern zu entscheiden - doch stieß dieses Ansinnen auf wenig Gegenliebe. Nach einem Bericht des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) ging die Mehrheit der NGOs ohne jede Absprache mit Regierungsstellen und anderen Hilfsgruppen zu Werke. So wurden manche Regionen mit Geld und Fürsorge überschüttet, andere vollends vernachlässigt. Nutzlose Waren, vor allem überschüssige Lebensmittel verrotteten in Lagern und Depots.
Kenternde Kähne
Unter dem Code "Village-Mapping" entbrannte ein resoluter Wettbewerb um die besten und dekorativsten Stücke des Tsunami-Kuchens. Die ließen sich nach allgemeiner Ansicht im schwer geschädigten Distrikt Nagapattinam abschneiden, dem im Tamil Nadu gleich 540 der insgesamt 720 Millionen Euro zuerkannt wurden, soweit man sich auf die teils vagen, teils unverbindlichen Zusagen verlassen durfte. Dabei wurden in Nagapattinam längst nicht alle Opfer gleich behandelt - Landarbeiter der unteren Kasten lösten weit weniger Begeisterung aus als die hier ansässigen Urbewohner, die außer der Reihe mit Häusern bedacht wurden. Manche Fischerfamilien, so der IRK-Report, seien heute sehr viel wohlhabender als vor dem Tsunami. Um das Chaos zu beherrschen, richtete der nach der Sintflut eingesetzte junge Distrikt-Collector ein NGO-Koordinationszentrum ein, das jedoch schlichtweg boykottiert wurde. "In einigen Dörfern sahen wir Namensschilder von NGOs, die wir vorher noch nie gesehen hatten", erinnert sich sein Kollege aus Cuddalore. "Aber wir Collectoren haben keine rechtliche Handhabe, das Treiben dieser Organisationen zu überprüfen oder gar zu unterbinden."
In Nagapattinam wurden nach dem Tsunami zehnmal mehr neue Boote verteilt als alte zerstört worden waren. Fischerboote seien eben ein fotogenes Geschenk, meinten die Zyniker. Für viele der Empfänger war das Glück indes von kurzer Dauer, denn die lokalen Bootswerften, die mit Hunderten von NGO-Aufträgen das Geschäft ihres Lebens machten, produzierten unter dem herrschenden Zeit- und Erfolgsdruck hastig und mit mangelhaftem Material. In den Kanälen von Nagapattinam dümpeln heute stattliche Kähne mit der stolzen Aufschrift "World Vision" neben kleinen Kunstfaserbooten einer christlichen Hilfsorganisation, die schon beim Stapellauf kenterten. Oft sind die generösen Spender längst abgereist, wenn die Mängel zu Tage treten. Sie kommen, schießen Fotos mit uns, während sie irgendwas übergeben, und gehen sich ihre Gelder holen, sagen die betrogenen Fischer bitter. Bei mittelgroßen Kuttern mit Außenbordmotor haben sich manche NGOs besonders großzügig gezeigt: Wo sich zuvor fünf Fischer ein Boot teilten, hat nun jeder eines erhalten, nur sind viele der neuen Besitzer zu arm, um sich den Unterhalt eines Bootes allein leisten zu können.
Schimmernde Schilder
In den NGO-Paradiesen boomt derweil nicht nur der Wiederaufbau, sondern auch der "Tsunami-Tourismus". Teure neue Hotels bieten den gestressten ausländischen Helfern Ruhe und Entspannung in diversen Ayurveda-Massage-Zentren. Die NGO-gespeiste Economy nebst ihrer finanzkräftigen Kundschaft produziert für die einheimische Bevölkerung als Nebeneffekt Mieten und Lebenshaltungskosten, die sich in schwindelerregende Höhen empor spiralen und die Objekte kurzlebiger Nächstenliebe an den Rand der Existenz treiben.
In weniger idyllischen, von den NGOs vergessenen Orten wie Kargil-Nagar in Madras haben die Überlebenden andere Probleme. Sie vegetierten noch bis Oktober einsam in einer Kolonie dürftiger blauer Zelte der Evangelischen Mission dahin, deren Mangel an sanitären Einrichtungen und Schlafstellen vor allem für Frauen und Mädchen zum Alptraum wurde. Zu allem Überfluss setzte der heftige Nordost-Monsun die Camps unter Wasser, so dass Unrat und Schlangen in die Zelte geschwemmt wurden. Die daraufhin vor drei Monaten errichteten provisorischen Unterkünfte scheinen kaum besser zu sein: die winzigen Boxen mit Metalldächern erinnern an Legebatterien und bieten weder Schutz vor Regen und Hitze, noch vor fremden Augen und Ohren. So leben im Januar 2006 im Bundesstaat Tamil Nadu noch mehr als 100.000 Menschen in provisorischen Behausungen, für deren beklagenswerten Zustand vorzugsweise die indische Niederlassung von Oxfam verantwortlich zeichnet. Doch disqualifiziert ist auch die Evangelische Kirche Indiens (EKI), die in Cuddalore schnell und ohne Erlaubnis 70 Einzimmerhäuschen hinpfuschte, die jeder staatlichen Qualitätsnorm spotten und vorwiegend als Träger hübscher blanker Schilder dienen, die da verkünden: "Dieses Haus ist ein Geschenk der Providence Baptist Church, NC, USA, through ECI Relief Team". Die evangelischen Geschenkruinen, inzwischen aus Sicherheitsgründen von der Polizei beschlagnahmt, sind nur einer von ungezählten Fällen, die Anwälte des Tsunami-Komitees Rechtliche Aktion in den 13 Distriken von Tamil Nadu dokumentiert haben, um sie vor Gericht zu bringen.
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