Nur aus eigener Kraft

Indien winkt bei fremder Hilfe dankend ab Die Streitkräfte des Landes haben den größten Katastropheneinsatz ihrer Geschichte hinter sich

Höchst unterschiedlich sind die von der Flut betroffenen Staaten in der Lage, die entstandene Situation zu meistern. Die ehrgeizige IT-Nation Indien hilft sich selbst und verweigert US-Schiffen die Präsenz in seinen Hoheitsgewässern. Indonesien hingegen ist von inneren Krisen zerrüttet und muss mit Aceh das Überleben einer Provinz sichern, die lieber heute als morgen den Staatsverband verlassen würde.

Am Montag kamen die Hunde. Sie schlichen um die Toten herum, die eine alles verschlingende See an den Strand zurück gespült hatte, und begannen ihr Mahl. Ein paar Fischerjungen versuchten, sie zu vertreiben, aber die Tiere kamen immer wieder zurück. Die jungen Männer, manche erst 15, manche schon 22, hatten schließlich Dringlicheres zu tun. Auch mussten sie während der vergangenen Tage schon grausamere Szenen sehen als diese. Mit ihren Händen - den einzigen, die noch zupacken konnten - hatten sie Hunderte von Toten, darunter Freunde und Verwandte, aus Schlamm und Schutt geborgen und in Massengräbern verbrannt. Am Sonntag mehr als 350, am Montag fast 500. Am Dienstagmorgen endlich kamen Armee-Einheiten in die nahezu ausgestorbenen, vom Umland abgeschnittenen Dörfer Akkaraipettai und Keechenkuppam.

Von diesem Zeitpunkt an existierten für die Operation Sea Weave, den größten jemals von indischen Streitkräften begonnenen Katastropheneinsatz, keine weißen, unerreichbaren Flecken mehr im verwüsteten Küstenland des Nagapattinam-Distrikts. Es gab nur wenige Ortschaften, in denen Menschen solange auf Hilfe warten mussten wie die Fischerjungen von Akkaraipettai. Obwohl der Tsunami völlig unerwartet zugeschlagen hatte, war es der Zentralregierung wie auch der Armee ohne Verzug gelungen, eine bemerkenswert koordinierte und effektive Rettungsoperation zu starten. Nur Stunden nach der Sintflut waren 30 Schiffe, 25 Flugzeuge und 4.000 Soldaten unterwegs. Die Operation Sea Weave beschränkte sich dabei nicht auf den 2.270 Kilometer langen südindischen Küstenstreifen und die Inselgruppen von Andaman und Nicobar, sie bezog auch andere Länder im Indischen Ozean mit ein, allen voran Sri Lanka und die Malediven. So brachten die Frachter der Navy in den ersten drei Tagen Tonnen von Trinkwasser, Hilfsgütern und Medikamenten in die Katastrophenzone, manövrierten ganze Schiffsverbände als mobile Notfallstationen, zogen die Matrosen Tausende von Überlebenden aus dem Meer. Zeitgleich versorgte die Air Force Opfer auf den schwer zugänglichen Inseln mit Medikamenten sowie Nahrungsmitteln.

Chacun à son goût - Indiens Premierminister Manmohan Singh hat alle Hilfsangebote fremder Regierungen mit dem Ausdruck höflicher Dankbarkeit abgelehnt. Sein Land sei bis auf weiteres sehr gut aus eigenen Kräften fähig, die Lage zu beherrschen. Dass eine Offerte der US-Regierung mit 15 Millionen Dollar geradezu lächerlich knapp gehalten war - genau den gleichen Betrag hatte Indien gerade seinem Nachbarn Sri Lanka für Rettungsarbeiten zur Verfügung gestellt -, schien den Regierungschef dabei weit weniger zu bewegen als gewisse grundsätzliche Erwägungen. Indien ist sich immer mehr seiner Position als Wirtschafts- und Militärmacht nicht nur in Südasien, sondern darüber hinaus bewusst. Delhi legt Wert darauf, aller Welt vor Augen zu führen, dass der indische Staat allen wie auch immer beschaffenen Herausforderungen gewachsen und darauf bedacht ist, dem Anspruch einer regionalen Supermacht gerecht zu werden. Indien hat seit dem 26. Dezember die von der Flutwelle heimgesuchten Nachbarstaaten mit versorgt und teilweise buchstäblich "patronisiert". Nicht zufällig korrespondiert Operation Sea Weave mit neuesten Leitlinien für die Navy, die darauf zielen, auch bei humanitären Einsätzen in befreundeten Ländern immer eine gewisse Vormachtstellung im Indischen Ozean zu wahren.

Der entscheidende Grund, Katastrophenhilfe aus dem Ausland vom eigenen Hoheitsgebiet fernzuhalten, dürfte allerdings nicht nationalem Prestige geschuldet, sondern rein militärischer Natur sein. Einzelne Sektoren der betroffenen Küstenzone, besonders die Andaman- und die Nicobar-Inseln mit der überfluteten Air Force Base sind strategische Zentren von herausragender Sensitivität für den gesamten asiatischen Raum. Indien plant zum "Schutz der befreundeten Länder im Indischen Ozean" ein spezielles Interventionskorps zu Wasser und zu Lande, damit niemand in Südasien der Versuchung erliegt, die Politik Bangladeshs zu kopieren. Zu Delhis größtem Verdruss hatte die Regierung in Dhaka 1990 ein Abkommen mit den USA geschlossen, das es amerikanischen Truppen gestattet, jederzeit ohne irgendwelche Formalitäten ins Land zu kommen, um im Falle eines Zyklons oder anderer nicht näher definierter Katastrophen Hilfe zu leisten.

Neben der Interventionstruppe hat Delhi sofort nach dem Unheil des 26. Dezember als weiteres ehrgeiziges Projekt den Aufbau eines eigenen Tsunami-Warnsystems (TWS) im Indischen Ozean nach dem Muster des US-geleiteten Pazifischen TWS angekündigt. Über die nötigen Satellitensysteme verfüge man bereits, hieß es. Nur die aufwändigen seismographischen Messanlagen auf dem Meeresboden müssten vorerst noch entbehrt werden.


Im Golf von Bengalen

In Südindien hat die Flutwelle einen Küstenstreifen von mehr als 2.200 Kilometern Länge verwüstet - betroffen sind Territorien der Bundesstaaten Tamil Nadu, Andra Pradesh, Pondycherry und Kerala. Die Zahl der bis zum 4. Januar geborgenen Todesopfer lag bei mehr als 4.500, wobei auf den zu Indien gehörenden Inselgruppen Andamanen und Nicobaren im Golf von Bengalen zusätzlich etwa 3.000 Menschen ums Leben kamen. Auch musste ein in Küstennähe gelegenes Kernkraftwerk schließen, nachdem Seewasser in Teile der Gebäude eingedrungen war.

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