Premier am Schnürchen

Indien nach gefährlichem Zwischenspiel Hat das Land künftig einen Regierungschef von Sonia Gandhis Gnaden? - fragt nicht nur die Opposition

Sonia Gandhi nennt es ihre innere Stimme. Andere sprechen vom Erfolg des ohrenbetäubenden Geschreis ihrer politischen Gegner. Am glaubwürdigsten erscheint, dass es der nachdrückliche Ratschlag Präsident Abdul Kalams war, der ihren jähen Verzicht auf das Amt der Regierungschefin erwirkte - eine Version, die offiziell natürlich dementiert wird.

Die unerwartete Verzichterklärung am 18. Mai löste dramatische Szenen im Kreis ihrer Verehrer und Höflinge aus. Sie drängten, baten, schrien, schluchzten und flehten die Stoische an, ihren Rückzug zurückzuziehen. Einer sprang auf ein Autodach, hielt eine Pistole an die Schläfe und drohte mit Selbstmord. Erst als der kühlende Abend sich senkte, dämmerte es allen, dass die Entschlossenheit der Schweigenden unerschütterlich blieb. Dies war kein Replay des Dramas von 1999 - Rücktritt und erflehte Wiederkehr als Kongress-Präsidentin -, sondern bitterer Ernst. Außerhalb des Lagers der Gandhi-Getreuen fielen an diesem Abend so viele Steine von den Herzen, dass es hätte donnern müssen. Der Vorhang senkte sich vor einer bizarren und gefährlichen Episode auf dem Weg zur Regierungsbildung.

Die Parlamentswahlen hatten die von der Volkspartei (BJP) geführte Zentralregierung zwar zum Abtritt gezwungen, aber kein klares Mandat für die Nachfolge vergeben. Die Kongresspartei rettete sich mit hauchdünner Mehrheit in eine Koalition, die so niemand gewählt hatte. Einzig durch den Wunsch verbunden, Premier Vajpayee aus der Regierung zu drängen, formierte sich die United Progressive Alliance (UPA). In dieser Situation hatte ein Klüngel in der Kongresspartei die allgemeine Verwirrung genutzt, um Sonia Gandhi in den Sattel zu heben, die es zuvor ihrer italienischen Herkunft wegen ausdrücklich vermieden hatte, für das Amt des Premiers zu kandidieren. Es begann zu brodeln: nationalistische Volksaufstände kündigten sich an, die Opposition drohte mit Boykott, die Börse stürzte in immer neue Tiefen, der Sicherheitsdienst warnte vor einem erhöhten Risiko für Gandhi. Wo immer sie herkam: die Stimme, die Sonia Gandhi in letzter Minute abberief, hat Indien vermutlich vor schwerer Konfrontation bewahrt.

Der nun gefundene Regierungschef - obwohl er sein Amt ohne persönliche Hypotheken und begleitet von großem Wohlwollen antritt - steht einer äußerst schwierigen Mission gegenüber. Er könnte genau der richtige Mann sein, ihr gerecht zu werden, wenn das überhaupt möglich ist. Manmohan Singh - Wirtschaftwissenschaftler mit Oxford- und Cambridge-Tradition, ausgezeichnet mit dem renommierten Adam-Smith-Preis - ist eigentlich kein Politiker. Er hat keine Massenbasis und noch nie eine Wahl gewonnen. Er gilt als Gentleman, als unbestechlicher Verwaltungsbeamter ohne Machtambitionen, als treuer Soldat, der überall pflichtbewusst und mit großem Einsatz ausgeführt hat, was von ihm verlangt wurde: als Professor, als Regierungsberater, als Gouverneur der Reserve Bank of India, als Finanzminister der Regierung Narasimha Rao zwischen 1991 und1996.

Ihm scheinen Ideologie geladene Konflikte fremd: Während Singh in seinen Büchern brillante Angriffe auf Weltbank und Internationalen Währungsfonds führte, war es 1991 eine seiner ersten Amtshandlungen als Finanzminister, vom IWF einen Fünf-Milliarden-Dollar-Kredit zu erwirken. Als Vater der großen Wirtschaftsliberalisierung Indiens einst als "geifernder Hund des Kapitalismus" beschimpft, lädt er heute dieselben linken Kritiker, vornehmlich die Kommunisten, nonchalant zur Unterstützung seines Minimalprogramms der "Reformen mit menschlichem Gesicht" ein. Und wirklich - die ungleichen Partner konnten sich auf ein Wachstumsziel von sieben bis acht Prozent einigen, begleitet von sozialen Maßnahmen für Bauern, Frauen, unterprivilegierte Kasten sowie religiöse Minderheiten. Praktisch dürfte sich dieses Programm kaum wesentlich vom Kurs der Vajpayee-Regierung unterscheiden.

Zweifellos wurde Manmohan Singh nicht von seiner Partei, sondern von Sonia Gandhi ausgewählt. Erste Interviews legen den Finger auf den wunden Punkt: Ist er Sonias verlängerter Arm, ein Premier am Schnürchen? Wird es künftig zwei Machtzentren geben, ein offizielles und ein inoffizielles? Es wird nur ein einziges geben, antwortete Singh mit ruhigem Lächeln, und sein Gesicht verrät, dass er nicht recht daran glaubt. Und ist er als Premier nicht direkt dem Volk verantwortlich - statt der Kongresspräsidentin? Auch diese Fragen bringt ihn nicht in Verlegenheit - dem brillanten Kopf ist es zuzutrauen, dass er die Dame im Hintergrund so geschickt in den Griff nimmt wie eventuell die indischen Linken - und das ganz unauffällig.

Diese Linke, das ist die Kommunistische Partei (CPI/M) mit ihren drei kleineren Schwestern, die aus dem dirigierenden Politbüro und zweieinhalb Staatsparteien mit politischer Basis in Kerala, Westbengalen und Tripunitura besteht. Obwohl unmittelbar voneinander abhängig, führen die Teile des Ganzen ein auffallend unabhängiges Eigenleben, das sie mitunter zu akrobatischen Balanceakten verführt. Dass die Führung in Delhi zum einflussreichsten Juniorpartner einer Kongressregierung avanciert - nicht direkt im Kabinett, sondern als Unterstützer von außen - ist der KP-Basis zu verdanken, die mit aggressiver Anti-Kongress-Propaganda das beste Wahlergebnis in der Parteigeschichte erstreiten konnte. Es dürfte dem KP-Triumvirat - bestehend aus dem betagten Singh Surjeet und seinen beiden Juniorpartnern Yechuri und Karat - auf längere Sicht nicht leicht fallen, ihren Kadern in Kerala und Westbengalen die Tuchfühlung mit der Kongress-Partei schmackhaft zu machen. Wer mit den Hunden jagen und mit den Hasen rennen will, wird nicht lange durchhalten.


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