„Sie werden sterben“

Indien Unfreiwillig verbreiteten verzweifelte Wanderarbeiter die Pandemie im ganzen Land. Nun steigen die Fallzahlen, die Kliniken sind überlastet
Ausgabe 42/2020

Megacitys wie Delhi und Mumbai sind Magneten. Millionen von Menschen aus armen ländlichen Gebieten im ganzen Land hoffen hier einen bescheidenen Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. Sie siedeln sich an in den engen, heruntergekommenen Arbeitersiedlungen oder in den Clustern zusammengepferchter Jhuggys, in Hütten und Zelten, deren Bewohner sich nicht selten eine öffentliche Toilette teilen müssen. Delhi hat mehr als 5.000 Slumsiedlungen, und niemand könnte genau sagen, wie viele Menschen dort auf engem Raum leben. Vor dem Trilokpuri-Slum in meiner Nachbarschaft türmen sich Hunderte von Fahrrad-Rikschas und laden zu Spekulationen über die Zahl der Bewohner ein. Nach einer Studie des Council for Social Development von 2003 soll es in diesem Bezirk seinerzeit für rund 230.000 Menschen etwa 360.000 Quadratmeter Wohnraum gegeben haben, anderthalb pro Person. Bis heute wird auf Dächern ebenso wie in engen Gullys geschlafen. Indien hat die größten Slumpopulationen der Welt. Der erste und einzige offizielle Versuch, sie zu zählen, ergab 2011 rund 65 Millionen.

Kranke im Schlepptau

Jeden Morgen schwärmt eine stille Armee von unregistrierten Arbeitskräften in Fabriken und Wohnviertel und lässt die Räder rollen: Rikschafahrer, Flickschuster, Gärtner, Autowäscher, Gemüseverkäufer, Putzfrauen, Straßenreiniger, Müllsammler und Boys für alles treten auf den Plan. Sie bauen, waschen, putzen, reparieren, bügeln, transportieren, entsorgen und organisieren das Leben der Mittelklasse. Sie arbeiten ohne Verträge, ohne feste Löhne, Garantien und Versicherungen. Sie haben keine Rechte, sind der Willkür korrupter Polizisten und ihrer Arbeitgeber schutzlos ausgeliefert, werden Opfer von Ausbeutung, Gewalt und sexuellen Übergriffen. Viele stehen allmorgendlich an Sammelpunkten und warten darauf, dass ein Kontraktor kommt und sie anheuert. Manche können ein- oder zweitausend Rupien auf die hohe Kante legen, die anderen leben von der Hand in den Mund und haben sich daran gewöhnt, an Regentagen kein Abendessen zu haben.

Durch den drakonischen Lockdown vor einem halben Jahr wurden Millionen über Nacht an den Rand eines existenziellen Abgrunds gedrängt. Vielen blieben die Kontraktoren den letzten Lohn schuldig. Panik und Verzweiflung brachen sich Bahn. Und Hunger. Es gab nur eine Hoffnung: die Geisterstädte zu verlassen und irgendwie zurück in die oft Hunderte Kilometer entfernten Heimatdörfer zu gelangen. Der große Exodus begann. Erschütternde Bilder gingen um die Welt: überladene Busse und Bahnen, prügelnde Polizisten, verzweifelte Ausbrüche aus improvisierten Corona-Camps, in denen die Arbeitsnomaden kurzerhand interniert wurden, Millionen erschöpfter Fußwanderer, ihre Habe gebündelt auf dem Kopf, Kinder und Kranke im Schlepptau. Mancher konnte sein Ziel nicht mehr erreichen. Wer nach vielen Tagesmärschen halb verhungert in seinem Dorf ankam, brachten etwas mit: das Virus.

„Es war ein Fehlschlag“, urteilt Kaushik Basu, einst Chefökonom der Weltbank. „Es trat genau das ein, was ein Lockdown nicht bewirken soll. Massen von Menschen zogen durch das Land, weil sie keine andere Wahl hatten. Das Resultat: Indiens Ökonomie erlitt schweren Schaden, das Virus breitete sich aus.“ Inzwischen gibt es nach offiziellen Angaben mehr als fünf Millionen bestätigte Fälle und über 100.000 Tote. Das mag, gemessen an der Bevölkerungszahl von 1,38 Milliarden Menschen, moderat aussehen. Doch dieser Eindruck täuscht: Die Corona-Lawine rollt mit alarmierender Geschwindigkeit. Seit Mitte September werden 90.000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet.

Blumen aus dem Helikopter

Der steile Anstieg der Kurven hat einerseits mit der gesteigerten Testkapazität zu tun, inzwischen werden landesweit über eine Million Abstriche pro Tag untersucht. Andererseits hat der Export der Pandemie aus den Metropolen auf das weite Land gefährliche Folgen. Das schon vor Corona überlastete, extrem fragile Gesundheitssystem ist nicht sonderlich belastbar, wenn auf dem Land ein Arzt für 10.000 Menschen zuständig ist (der WHO-Mindeststandard liegt bei 1 : 1.000). Als Hospitäler dienen teilweise kleine Baracken ohne jede Ausrüstung, die nicht mehr als Wundverbände und Schmerztabletten zu bieten haben. Selbst größere staatliche Krankenhäuser unterliegen extremen Beschränkungen. Als ich eine Entbindungsklinik nahe Delhi besuchte, war dort zu erfahren, dass acht Ärzte monatlich bis zu 140 Entbindungen vornehmen.

98 Prozent der indischen Mediziner arbeiten in den Städten, 80 Prozent davon in gut ausgestatteten Privatkliniken, die derzeit über 64 Prozent der Krankenhausbetten verfügen. Einige davon sind auf Service für Touristen eingestellt und rufen Preise auf, die kaum ein Inder zahlen kann. Krankenversicherungen haben in der Regel nur Beamte und leitende Angestellte großer Konzerne. Das heißt, wird der Klinikaufenthalt eines Familienmitglieds notwendig, drohen Schulden und finanzieller Ruin. Einem Arbeiter mit einem durchschnittlichen Tageslohn von umgerechnet 4,20 Euro stehen nur staatliche Krankenhäuser offen, die arme Patienten umsonst behandeln müssen. Hier ist der Andrang – auch ohne Corona – enorm. Patienten und Angehörige campen auf der Straße, drängen sich vor den Eingängen, sodass es oft zu Handgemengen kommt. Gelegentlich verleihen Verwandte ihrem Wunsch nach Behandlung gewaltsam Nachdruck, auch gegenüber Ärzten. Eine Klinik, die hauptsächlich Bewohner des Viertels Trilokpuri versorgt, arbeitet unter ständigem Polizeischutz.

Die Pandemie hat die krassen Unterschiede in der indischen Gesellschaft verschärft. Während einige Privatkliniken in Delhi wohlhabenden Patienten unter der Hand Corona-Pakete für umgerechnet 12.000 Euro anbieten, flehte vor wenigen Tagen ein junger Arbeiter in 13 staatlichen Hospitälern um die Aufnahme seiner hochschwangeren Frau, bevor diese im Krankenwagen starb. Kein Einzelfall, die sozialen Netzwerke quellen über von verzweifelten Hilferufen und tragischen Schicksalen. Wollte man Indiens Bruttosozialprodukt auf vier Päckchen verteilen, hielte zwei davon ein einziges Prozent der Bevölkerung in der Hand, das dritte teilten sich neun Prozent, das vierte bliebe für den Rest. Dementsprechend ist Social Distancing das Privileg einer winzigen Elite.

Die medizinische Versorgung der Armen findet sich stattdessen längst von der Corona-Lawine überrollt. Wobei der Gesundheitszustand der Armen sowieso extrem desolat ist. Genau genommen kann man angesichts gewaltiger Dunkelziffern nicht sagen, wie viele Menschen wirklich an Covid-19 sterben. Die Armen leiden an vielen Krankheiten, die selten sorgfältig diagnostiziert und registriert werden. 70 Prozent der Todesursachen werden nie genau geklärt.

Manchmal sterben die Menschen auch einfach an ihrer Armut. Ein Bekannter wurde während seines medizinischen Praktikums Zeuge eines schockierenden Gesprächs. Er hörte, wie ein Arzt einem Patienten mit akutem Nierenversagen mitteilte, dass es für ihn leider keinen freien Dialyseplatz mehr gebe. „Was soll ich machen?“, fragte der Patient. „Sie werden sterben“, bekam er zu hören. „Denn eine Dialyse in einem Privatkrankenhaus können Sie sich nicht leisten.“

Unter dem Titel „National Burden Estimate“ wurde 2017 von Lancet, einer der ältesten und renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften weltweit, eine Studie publiziert, die Tod und Leiden in Indien quantifizieren wollte. Sie ermittelte, dass Unterernährung, Tod im Kindbett, Infektions- und Atemwegserkrankungen (vor allem durch Luftverschmutzung), Herzinfarkt, Schlaganfall und Unfälle in diesem Land jährlich etwa 9,7 Millionen Lebensjahre kosteten und dass weitere 486 Millionen Lebensjahre aufgrund der gleichen Faktoren im Zustand schweren Leidens verbracht werden mussten. Drei Viertel dieses Leidens hätte die Landbevölkerung zu tragen, aus der sich Wanderarbeiter und Slumbewohner rekrutieren.

Auch der jetzige Rückgang des Bruttosozialproduktes tötet ungleich. Die Ökonomen Deepa Mani und Shashwat Alok führen die Parole von Premier Modi ad absurdum, zuerst Leben und später die Wirtschaft zu retten. Sie berechnen, dass eine Reduzierung der Einkommen um 30 Prozent den Tod von etwa 430.000 Menschen nach sich zieht. Es handelt sich nicht um Inder, die während des Lockdowns vom ökonomischen Durchschnittsverlust getroffen, sondern auf „Nulldiät“ gesetzt wurden.

Nach offiziellen Angaben muss die indische Wirtschaft im Vergleich zu 2019 einen Rückgang um 23,9 Prozent verkraften. Diese Angabe, sagen Experten, sei nicht nur geschönt, sondern entbehre jeder realen Basis, da der informelle Wirtschaftssektor völlig außer Acht gelassen werde. Ohnehin muss sich die Zentralregierung vorwerfen lassen, statt einer koordinierten, seriös begründeten Corona-Strategie von Anfang an nur „Headline-Management“ betrieben zu haben. Bilder aus einer Imagewerbung für Narendra Modi sprechen Bände: Helikopter werfen Blumen ab, um medizinisches Personal zu ehren, das noch im April ohne zureichende Schutzausrüstung an die Corona-Front geschickt wurde. Auch werden Menschen gezeigt, die dem Aufruf Modis folgend auf heiligen Muscheln blasen, um den bösen Corona-Geist zu vertreiben. Jedenfalls weiß Indiens starker Mann die Pandemie zu nutzen, um seine hindu-nationalistische Agenda voranzutreiben. Covid-19 kam wie gerufen, sodass der Protest dagegen im Lockdown ersticket wurde. Hinter den Kulissen werden seither skandalöse politische Urteile im Sinne der regierenden BJP gefällt und Menschenrechtsgruppen aus dem Land getrieben. Amnesty International hat seine indischen Büros geschlossen, nachdem sich die Organisation massiv behindert fand und ihre Konten eingefroren wurden.

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