Schule ist kein Elternersatz

Wunschprojektionen Eltern erwarten von Lehrern und dem Unterricht schier Uneinlösbares

Nach den bildungspolitischen Debatten, die durch die Pisa-Studien ausgelöst wurden, müssen sich Schulen mehr und mehr auf eine Wunschvorstellung einstellen, die bevorzugt paarweise auftritt: die Elterninitiative im Verein mit der Individualisierung von Bildung. Zwei völlig unterschiedliche Erwartungen sind mit dem neuerdings forcierten Anspruch der Elterninitiative verknüpft. Die Schule erhofft sich Spendengeld und ehrenamtliches Engagement für eine Cafeteria und die ein oder andere Arbeitsgemeinschaft, um die - Stichwort Ganztagsschule - noch längere Verwahrung der ihr staatlicherseits anvertrauten Kinder zu gewährleisten. Eltern erhoffen bei noch längerer Verwahrung ihrer Kinder ein Mitspracherecht in Belangen des Unterrichts. Und es bleibt nicht bei der Hoffnung, nein, die Elternforderungen gären, angeheizt durch die medialen Reflexe auf Pisa und in der Angst, der eigene Nachwuchs könnte im Rattenrennen um die wenigen Kuchenkrümel der Zukunft eine schlechtere Ausgangsposition einnehmen.

Umfrageergebnisse verleihen solchen Forderungen den nötigen Nachdruck: 1993 gaben noch 46 Prozent der befragten Eltern an, sie hätten großes Vertrauen zu Lehrern, 2004 nur mehr 32 Prozent. Dazwischen waren die Ergebnisse der ersten Pisa-Erhebung durch die Medien gestürmt. Daraus lässt sich doch nur eines folgern: Drohender schulischer Misserfolg des eigenen Kindes erscheint als durch die Schule selbst herbeigeführt und ist deshalb auch nach dem Verursacherpinzip durch die Schule selbst abzuwenden. Und die Eltern artikulieren mittlerweile erstaunlich genaue Vorstellungen, wie das erreicht werden könnte. Nach einer anderen Umfrage, pünktlich in der Presse veröffentlicht nach Pisa II, fordern 49 Prozent der Eltern eine Individualisierung der Förderung und 44 Prozent die Entlassung von Lehrern. Wer für Individualisierung des Unterrichts eintritt, kann unmöglich den Abbau von Personal wollen, insofern, scheint die Elternschaft hier gespalten zu sein. Dazu tritt der Wunsch nach Ganztagsunterricht, nach Wissen, das sich nicht abnutzt im scheinbar schnellen Wissensverfall der Wissensgesellschaft, und nach Lehrern, die noch mehr Erziehungsarbeit leisten, möglichst liebevoll und individuell interessiert an jedem Kind, und die an Stelle von abfragbarem, benotbarem Wissen als Zielvorstellung die Entwicklung individueller Fähigkeiten setzen, und das alles selbstverständlich bei vollständiger Finanzierung durch den Staat.

Das ist mehr als jede Waldorfschule leisten könnte. Zählt man alle Wünsche zusammen, ergibt sich in der Summe vor allem die tiefsitzende Sehnsucht, in der Schule ein ideales Elter, nein, viele ideale Eltern für das eigene Kind zu finden. Als Schülerin hätte ich allerdings keinerlei Bedarf gehabt an Lehrern, die sich mir aufdrängen wie meine peinlichen Eltern, von denen ich schon zu Hause genug hatte. Es war angenehm, Lehrer aus der Distanz zu genießen. Sie hatten fair und freundlich zu sein und durch ein gewisses straffes Regiment dafür zu sorgen, dass die Beschäftigung mit dem Gegenstand in geordneten Bahnen vor sich ging. Das Letzte, was ich mir gewünscht hätte, wäre, auch in der Schule Gegenstand liebevoll individueller Projektionen zu sein. Genau das scheinen aber Eltern zunehmend in der Schule zu suchen, ein Alter Ego, das hinsichtlich der Zuwendung ihr eigenes Wunsch-Ich möglichst noch übertrifft.

Es scheint sich aber daneben eine zweite Projektion von Eltern zu stellen. In dieser Wunschvorstellung verwandeln sie sich in die Kinder, die einst nicht alles bekommen haben und nun den Mangel an durchgängig guten Noten, elterlicher Unterstützung und aufregenden Schulstunden ummünzen in eine Erinnerung an Schule, in der sie vermeintlich nichts gelernt hätten. Besonders die gut ausgebildeten Mitvierziger tendieren zu solchen Vorstellungen.

Wenn das Kind zu Beginn der ersten Klasse das Schreiben der Ziffer 3 üben soll, indem es Schuppen in einen Fischkörper malt, muss man es doch vor soviel Stumpfsinn schützen, oder? Dass die Wiederholung gut ist für die Entwicklung der Feinmotorik, der konkrete Fisch als Merkzeichen für die abstrakte Ziffer dient und langer Atem eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Lösen von Problemen ist, wären manchen engagierten Eltern höchstens Argumente, von solchem Unterricht radikale Neuerung zu verlangen. Dergleichen hat schon ihre eigene Kindheit in einen langen, trägen Fluss verwandelt. Für ihre Kinder wünschen sie Beschleunigung. Sie wünschen moderne Methoden, um die Mühsal des Vokabellernens vergessen zu machen, damit ihr Kind nicht daheim, aufgehoben in der vertrauensvollen häuslichen Atmosphäre, über die Schule zu klagen hat. Sie wünschen völlige Konfliktfreiheit und Kurzweil für ihr Kind, kombiniert mit garantiertem gymnasialem Schulerfolg. Wovon sie selbst noch im Vorüberrauschen profitierten - ein einigermaßen gefügtes Schulleben. Direktoren, deren autoritäres Gehabe sie lustvoll bekämpfen konnten, gedeckt durch liberale Lehrer, und die Auseinandersetzung mit selbstverständlich inhaltsorientiertem Unterricht -, gönnen sie ihren eigenen Kindern nicht und auch nicht das Eigensein der darin möglichen Erfahrung. Dem individuellen Bildungsplan, den sie in ihrem Engagement fürs Kind fordern, wohnt die Tendenz inne, die Herausforderung auf ein Minimum herabzuschmelzen.

Aber so recht wohl scheint den Eltern denn doch nicht dabei zu sein. Denn zugleich fordern fast die Hälfte davon, dass die Standardisierung der Bildungsabschlüsse bitte gesichert sei. Ist das nun genau die andere Hälfte der Elternschaft, diejenige, die der Individualisierung abhold ist und Schulbildung nach altem Schrot und Korn ersehnt? Auch das ist nicht recht zu glauben, denn beides, Individualisierung und Standardisierung, wird auch bei der Schulentwicklung gern in einem Atemzug genannt und von Eltern hoffnungsvoll wiederholt. Und so sehen wir denn, wie die Arbeit an der perfekten Bildung in der elterlichen Vorstellungswelt doch eigentlich Unvereinbares recht nach Hausmacherart bereits zu einem regressiven Eintopf zusammengefügt hat.

Dr. Ursula Enderle ist Linguistin, sie hat Staatsexamen in den Fächern Latein und Deutsch abgelegt und die Lehrerlaufbahn verlassen. Heute arbeitet sie als freie Lektorin.


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