Es geht beim Streit über Altersarmut beileibe nicht nur um die Rente. Ein Jahr vor der Bundestagswahl treten politische Macht- und Ränkespiele in den Vordergrund. Es geht um das spannungsgeladene Verhältnis der Bundeskanzlerin zu ihrer Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, aber auch um die Zukunft der brüchigen Koalition der Union mit dem einstigen Traumpartner FDP. Und dann ist da natürlich noch die „K“-Frage der SPD.
Vor dieser Kulisse haben nun sowohl die CDU-Ministerin von der Leyen als auch die SPD die nächste Rentenreformrunde eingeläutet. Beide stellen für Geringverdiener eine Aufstockung der Renten auf 850 Euro in Aussicht. So weit, so ähnlich. Immerhin setzt die SPD auf Steuerfinanzierung und vermeidet damit den weiteren Raubbau an den Beitragskassen, den die Bundesarbeitsministerin vorsieht. Doch springen beide Seiten erheblich zu kurz: Mit wohlklingendem Aktionismus ist ein Schließen der klaffenden Rentenlücken und eine nachhaltige Bekämpfung der Armut im Alter nicht möglich.
Der Finanzminister freut sich
Gebraucht wird ein umfassendes Rentenkonzept einschließlich Finanzierung. Vor allem muss der Absturz des Rentenniveaus von heute 51 Prozent auf 43 Prozent im Jahr 2030 umgehend gestoppt werden. Dazu sind aber beide Seiten nicht bereit. Die gebetsmühlenartigen Hinweise von SPD-Chef Sigmar Gabriel auf die mangelnde Finanzierbarkeit haben keine Glaubwürdigkeit. Genauso wenig glaubwürdig ist die Bundesarbeitsministerin. Sie hat gerade die Senkung der Beiträge zur Rentenversicherung von 19,6 auf 19,0 Prozent durch das Bundeskabinett gebracht. Damit entzieht sie der Reform das nötige Geld. Und der Bundesfinanzminister freut sich über milliardenschwere Kürzungen der Zuschüsse aus der Staats- an die Rentenkasse.
Um die Rentenlücke zu schließen, setzt die CDU den Ausbau der privaten Alterssicherung. Die SPD will eine „Betriebsrente Plus“. In beiden Fällen wird die eigene Klientel bedient: Die Finanzbranche einerseits und die gewerkschaftlich gut organisierten Arbeitnehmer und Betriebsräte in Großunternehmen andererseits. Die große Mehrzahl der wirklich Bedürftigen und vor allem die bei Löhnen und Betriebsrenten erheblich benachteiligten Frauen bleiben außen vor. Viele von ihnen werden kaum jemals eine Rente von 850 Euro erreichen können.
Noch zählen aber weniger die Details als die politischen Kapriolen um einen möglichen Rentenkonsens: Gabriel verlangt von der CDU den bisher verweigerten gesetzlichen Mindestlohn; die CDU will im Gegenzug die Erklärung der SPD, bei der Rente mit 67 zu bleiben. Das zumindest dürfte nach dem Konzept von Gabriel kein Problem sein: Er will explizit nicht von der Rente mit 67 abweichen. Solche Anknüpfungspunkte machen wiederum die schwächelnde FDP zunehmend nervös. Die Liberalen wittern Große Koalition und warnen umso eindringlicher vor dem ordnungspolitischen Sündenfall – egal ob Zuschuss- oder Solidarrente.
„Trickserei und Panikmache“
So tut sich von der Leyen in der jetzigen Koalition mit ihrem Vorstoß sichtbar schwer. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bereits deutlich gemacht, dass sie in dieser Legislaturperiode keine Entscheidung über die Zuschussrente mehr will. Bleibt es dabei, ist dies womöglich der politische Todesstoß für von der Leyens Modell. Besonders schwer wiegen die Vorwürfe aus den eigenen Reihen, die Arbeitsministerin betreibe „Trickserei und Panikmache mit Zahlen“. Erst kürzlich hat sie mit plastischen Beispielen deutlich gemacht, dass die drohende Altersarmut auch die Mitte der Gesellschaft trifft.
Die Kritik an ihrer Zuschussrente ist allerdings schon älter – nicht nur in den eigenen Reihen. Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbände beklagen die hohen Zugangshürden: Man muss 45 Jahre beschäftigt gewesen sein und 35 Jahre lang Beiträge gezahlt haben; zudem muss man bis zu 40 Jahre für die Riester-Rente gespart haben. Gerade für Geringverdiener ist die Schwelle viel zu hoch. Die SPD hat daher in ihrem Rentenkonzept die Beschäftigungs- und Beitragszeiten um jeweils fünf Jahre herabgesetzt und nicht mit der privaten Zusatzvorsorge verbunden. Niedriglöhnern wird aber auch das kaum helfen, weil sie oft große Lücken bei Beschäftigung und Einkommen haben.
Die Bürger wissen es
Von der Leyen scheint ihr sprichwörtliches politisches Gespür zu verlassen: Die Bürger haben die Dramatik bei der Alterssicherung längst erkannt, und immer mehr erleiden den Abfall der Renten auch bereits am eigenen Leib. Eine große Mehrheit lehnt deshalb die nun beschlossene Senkung der Rentenversicherungsbeiträge zum 1. Januar ab, die durchschnittlich monatlich gerade einmal 7,50 Euro pro Versicherten bringen.
Die Bundesarbeitsministerin hätte gerade den „fleißigen“ Menschen mit geringen Löhnen und Renten einen Dienst erwiesen, wenn sie dem Vorschlag gefolgt wäre, den Rentenbeitrag bei 19,6 Prozent stabil zu halten und mit den zusätzlichen Milliarden eine Demografiereserve anzulegen. Damit gäbe es Spielräume, notwendige Verbesserungen der Renten zu finanzieren. Die Idee hat übrigens auch Anhänger in der Union. Wortführer ist von der Leyens ehemaliger Staatssekretär, der jetzige saarländische Sozialminister Andreas Storm, der Widerstand im Bundesrat angekündigt hat.
Der Rentenstreit in der Regierungskoalition geht also weiter – und in der SPD ist es ähnlich. Gleichzeitig setzt sich der Abfall der Renten dramatisch fort. Selbst für 35 Jahre lang kontinuierlich versicherte Männer sind sie in den zehn Jahren seit den Riester-Reformen von 1.010 Euro bis heute auf 958 Euro zurückgegangen. Dies ist mit einem noch größeren Schwund an realer Kaufkraft verbunden. Dazu gehören nicht nur die Preissteigerungen, sondern auch die zusätzlichen Belastungen für die Kranken- und Pflegesicherung. Selbst wenn man das gesamte Haushaltseinkommen von Rentnern berücksichtigt, ergibt sich ein spürbarer Rückgang – unabhängig von den Lebensformen. Die Erwerbsminderungsrenten liegen schon heute häufig unter der Armutsgrenze.
Spirale der Armut
Dem Bundesarbeitsministerium gebührt das Verdienst, dass es auf die künftig noch dramatischere Entwicklung hingewiesen hat. Wenn das Rentenniveau von heute 51 Prozent bis 2030 auf 43 Prozent gesenkt wird, sind längst nicht mehr nur Geringverdiener betroffen, sondern auch die sogenannte Mitte der Gesellschaft. Für viele Frauen setzt sich die Spirale in die Altersarmut fort. Schon heute erhalten sie nur Niedrigrenten von im Schnitt 529 Euro. Frauen, die tatsächlich dreieinhalb Jahrzehnte Versicherungszeiten haben, erhalten im Schnitt gerade einmal 600 Euro.
Die Lösung heißt: die lohnbezogene, dynamische Rente wieder herstellen. Schließlich kann es bei dem gesetzlichen Rentensystem mit Pflichtbeiträgen nicht nur um die Vermeidung von Altersarmut gehen. Vielmehr muss der weitgehende Erhalt des Lebensstandards auch im Rentenalter gelten. Dazu müssen die Kürzungen der Rentenleistungen vor allem im Zuge der Riester-Reform von 2001 zurückgenommen werden. Denn sie basieren auf der Fiktion, dass alle künftigen Rentner eine zusätzliche kapitalgedeckte Altersversorgung mit vier Prozent ihres Bruttoeinkommens abschließen. Tatsächlich gilt dies noch nicht einmal für die Hälfte der Rentenversicherten. Vor allem Bezieher niedriger Einkommen können sich das überhaupt nicht leisten.
Nur Ergänzung
Wegen der Finanzkrisen, die auch Versicherungskonzerne erfassen, ist vielen Menschen auch das Risiko der Kapitalanlage zur Alterssicherung zu hoch. Die private Zusatzvorsorge kann allenfalls Ergänzung, aber niemals Ersatz für eine ausreichende gesetzliche Alterssicherung sein. Das häufig gehörte Argument, dies sei für die jüngere Generation nicht bezahlbar, überzeugt nicht. Denn die Beiträge für die private Zusatzvorsorge müssen ebenso aus ihrem Einkommen geleistet werden. Entlastet werden allerdings die Arbeitgeber.
Überfällig ist auch die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die Rentenversicherung. So gäbe es genügend finanzielle Spielräume, ohne die Beiträge über die festgelegten 20 Prozent 2020 und 22 Prozent 2030 anheben zu müssen. Dann wären auch Mittel für die Aussetzung der von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnten Rente mit 67 verfügbar. Dies setzt allerdings voraus, dass die SPD hierzu endlich Farbe bekennt, was Gabriel bislang ablehnt.
Die wachsende Altersarmut in den nächsten Jahrzehnten erfordert grundsätzliche Veränderungen nicht nur in der Renten- sondern auch in der Arbeitsmarktpolitik: existenzsichernde Mindestlöhne und Mindestrenten, faire Löhne und Arbeitsbedingungen, aber auch die Begrenzung der ausufernden Leiharbeit, Scheinselbständigkeiten und Werkverträge sowie die Bekämpfung der Beschäftigung- und Lohndiskriminierung für Frauen. Vor allem müssen die 7,4 Millionen Minijobs in sozialversicherungspflichtige Arbeit mit einer höheren Entlohnung umgewandelt werden. Sie sind eine wesentliche Ursache für Armut und die milliardenschweren Ausfälle bei den Beiträgen auch für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung. Die Wähler werden bei der Bundestagswahl in einem Jahr auch über für die Zukunft unseres Sozialstaates abstimmen.
Ursula Engelen-Kefer war lange DGB-Vizechefin und Vorstandsvorsitzende der Deutschen Rentenversicherung
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