Vor der Grabwespenhöhle

Weisheit Jean-Henri Fabres „Erinnerungen eines Insektenforschers“ beeinflussten auch Schriftsteller und Künstler, nun liegen sie endlich auf Deutsch vor

Eine mächtige Wolkenwalze quält sich über die Hügel hinter unserem Haus. Ich verlasse die kühlen Räume, trete in ein gleißendes, starres Licht. Eine Weile folge ich dem steintrockenen Grasweg über das Brachland. Schwalben machen flink vor dem Gewitter noch Beute.

An diesem Ort könnte man den Zeitenlauf um hundert Jahre zurückdrehen. Damals wie heute achtet der Spaziergänger wohl auf das Wetter, die Schwalben, nur nicht auf den Boden, über den er geht. Er tritt mit jedem Schritt auf allerlei Getier. Und er würde nie erfahren, welche Wunderwerke er da so leichtfertig zerstört – hätte es nicht Naturforscher wie Jean-Henri Fabre gegeben, die ihre Lebenszeit darauf verwandten, den missachteten kleinen und kleinsten Lebewesen eine unvergängliche Bühne zu schaffen.

Von 1879 bis 1907 veröffentlichte der französische Entomologe Jean-Henri Fabre seine Souvenirs Entomologiques. Bisher wurden seine Schriften nur in Auszügen ins Deutsche übersetzt. Seit März liegt nun der erste Band einer bis 2015 geplanten zehnbändigen Gesamtausgabe vor. Einfühlsam übersetzt von Friedrich Koch und mit Federzeichnungen von Christian Thanhäuser zurückhaltend illustriert. Der zweite Band folgt im Oktober 2010.

Vor mehr als hundert Jahren also ging der Insektenforscher und Autor Jean-Henri Fabre im südlichen Frankreich über Land. 1823 als Sohn eines Gastwirtsehepaars im Lévezou geboren, später beheimatet in der Provence, waren es zumeist steinige, karge, von wildem Thymian bewachsene Böden, über die er ging.

Fabre faszinierten nicht die aufgespießten Käfer und Schmetterlinge, nicht die anatomisch-morphologischen Merkmale der Insekten wollte er katalogisieren. Vielmehr verließ er sein Studierzimmer und beobachtete die vielfüßigen, glasflügeligen Geschöpfe in ihrer natürlichen Umgebung. Lebensweise, Verhalten und vor allem ihre Instinkte interessierten ihn. So wurde Fabre, der Autodidakt, zum Wegbereiter der Verhaltensforschung, die im 19. Jahrhundert noch weitgehend unbekannt war.

Vom Verhalten auf Intention, auf Instinkt schließen. Messerscharf getrennt vom Intellekt. Seine Beobachtungen und Erkenntnisse verarbeitete er auf tausenden Seiten zu einer epochalen naturgeschichtlichen Prosa.

Das gelähmte Opfer

„Eure Parzelle ist ein Garten Eden“, jubelt der Forscher, wenn der Beobachtungspunkt einmal nicht an der prallen Sonne, sondern im spärlichen Schatten eines Olivenbaums liegt. Im Nacken immer die Angst, der hohe Einsatz an Zeit werde in einem Moment zunichte gemacht, so wie eben in diesem Fall: „Eine Gelbflügelige Grabwespe kommt gehüpft, ihre Jagdbeute hinter sich herziehend. Was sehe ich? Es ist keine Grille, sondern eine gewöhnliche Feldheuschrecke!“ Die Höhle ist in der Nähe, die Grabwespe legt ihre Beute ab. Der Forscher beschließt, wenn nötig, weitere Stunden abzuwarten, um herauszufinden, ob der ungewöhnliche Fang wiederholt wird. Aber die Katastrophe naht: Zwei Rekruten, frisch geschoren, plaudernd, lachend, kommen des Wegs. Der Forscher überlegt fieberhaft, ob er die Rekruten aufhalten soll, verwirft es aber, weil er „Fragen nicht zufrieden stellend hätte beantworten können“. Es geschieht, was geschehen muss, ein schwerer Militärstiefel tritt auf die Decke der Grabwespenhöhle. „Ein Schaudern überlauft mich, als hätte mich das Absatzeisen getroffen“, schreibt Fabre. Dem Leser ergeht es ähnlich.

Weltweit haben sich nicht nur Insektenforscher mit Fabres Werken befasst, auch Künstler, Schriftsteller, allen voran die Surrealisten. Wie gelingt es Fabre ein so breites Interesse am Leben von Scarabäen, Hautflüglern oder Mörtelbienen zu wecken?

Der Leser schaut an, was Fabre anschaut. Er sitzt neben dem Forscher im Sand und sieht, wie eine Grabwespe ihre Lanzette mitten ins Nervenzentrum des Rüsselkäfers bohrt. Das Opfer, gelähmt und lebensfrisch präpariert, dient nunmehr als Nahrung für den Wespennachwuchs. Woher bloß nimmt die Wespe solche genauen anatomischen Kenntnisse? Instinkt. Praktisches Wissen, das vererbt wird. Faszinierend und manchmal absurd. Eine starre Abfolge von Instinkthandlungen. Veränderung ist nicht vorgesehen. Manipuliert der Forscher den Eingang der Wespenhöhle, legt das Nest frei, so dass die Larve ungeschützt daliegt, erkennt die Mutter ihre eigene Brut nicht mehr. Fehlt der Schlüsselreiz „Eingang“, bricht das ganze System zusammen. Die Wespe fliegt davon und lässt ihre Larve vertrocknen. Eine vernünftige Anpassung ist nicht möglich. „Welche Kluft zwischen Intelligenz und Instinkt!“, ruft Fabre aus.

Und dennoch sind es menschlich anmutende Beschreibungen, die Fabre verfasst; vor dem inneren Auge krabbeln Leute mit Rüsseln, Leute mit vielfach gegliederten Beinen, mit Fühlern und Panzern. Natürlich immer mit einem Augenzwinkern derart charakterisiert. Niemals kommt Zweifel auf, dass hier ein Wissenschaftler am Werk ist. Aber glücklicherweise einer, der die immanente Kälte der genauen Beobachtung nie über die Bewunderung, ja, die Liebe und manchmal auch die Abneigung zum beobachteten Objekt stellt.

Die Fleischfliege wartet geduldig vor dem Grabwespenbau. Sie wird ihre Eier auf der Beute der Wespe ablegen. Ein Parasit, der davon lebt, dass andere seine Larven großziehen. „Ihre dunkelbraune Färbung, ihre großen blutroten Augen, ihre unnachgiebige Reglosigkeit haben mich oft an Banditen erinnert: in groben braunen Wollstoff gekleidet, ein rotes Schnupftuch um den Kopf liegen sie auf der Lauer.“

In diesem Fall scheint der Instinkt einmal nicht das Überleben einer Art zu sichern. Aber auch das gehört zum Programm. Die Jägerin muss Angst vor ihrem eigenen Beutetier haben, wenn es vor dem Nest hockt. „Wäre es anders“, konstatiert Fabre schlicht, „gäbe es schon lange keine Zweiflügler mehr“.

Ein gequältes Gespenst

Instinkt hat nichts mit Logik zu tun, auch nichts mit Gerechtigkeit oder Moral. In dieser Insektenwelt bestiehlt jeder jeden. Jeder bringt jeden um. Räuber und Mörder allesamt. Keines dieser Kreatürchen verdient Mitleid und doch empfindet man Mitleid und Respekt. Respekt vor der Weisheit des Instinkts, der wie ein riesiges Räderwerk, unübersichtlich, brutal, aber außerordentlich effektiv, das Funktionieren des großen Ganzen sichert.

Wie unverdrossen die Tapferen ihr Werk ständig wieder von vorne beginnen. Die Insekten, wie auch ihr Erforscher selbst, dessen investierte Zeit von einem achtlosen Stiefeltritt in einem einzigen Augenblick vergeudet scheint. Enttäuschung, aber kein Gedanke ans Aufgeben. Über Jahre, Jahrzehnte geht Fabre seiner Leidenschaft nach. Nicht in einem wohltemperierten Forschungslabor, anerkannt und geachtet. Im Gegenteil. Oft fühlt er sich behelligt, ja, verfolgt vom Unverständnis, etwa des Feldhüters: „Schon lange hat er ein Auge auf euch. Er hat euch so oft wie ein gequältes Gespenst umherlaufen sehen, ohne den Grund zu wissen.“ Fabre scheint es aussichtslos zu erklären, „warum ein Mensch seine Zeit mit dem Beobachten von Fliegen verbringt“.

Immer wieder von vorne beginnen. Unbeirrbar. Unerbittlich wäre auch ein Wort, wenn es nicht in der Nähe von Sturheit stünde. Besessen, könnte man sagen, wenn da nicht die Faszination für den Menschen wäre, der seinen Plan radikal verwirklicht.

Nach einem entbehrungsreichen Leben als Lehrer und Schulbuchautor konnte sich Fabre 1897 einen lang gehegten Traum erfüllen: Mit einem Darlehen des Politikers und Naturphilosophen John Stuart Mill, der zeitweilig in Avignon lebte, kaufte er sich ein Anwesen in Sérignon-du-Comtat. Er nannte es „Harmas“, Brachland. Unfruchtbar, von der Sonne verbrannt, aber „günstig für Disteln und Hautflügler“. Endlich hatte er den Ort und die Zeit, sich seiner Forschertätigkeit ungestört widmen zu können. Keine Spaziergänger mehr, die durch sein Revier trampelten, keine Feldhüter, denen das „gequälte Gespenst“ ein Dorn im Auge war. Hier beschloss Fabre 1915 auch sein Leben, hoch geehrt.

Jean Henri Fabre hinterlässt uns ein großartiges Werk, ein umfassendes Sittenbild der Insekten, erzählt in einer wunderbar poetischen Sprache. Die Geschäfte der Insekten sind unversehens zu eigenen atemberaubenden Abenteuern geworden.


Ursula Fricker (geb. 1964 in Schaffhausen) lebt in der Mark Brandenburg. Zuletzt erschien von ihr der Roman Das letzte Bild (Rotpunktverlag)

Entomologische Erinnerungen, Band 1Jean-Henri Fabre Aus dem Französischen von Friedrich Koch, Federzeichnungen von Christian Thanhäuser, Matthes & Seitz, Berlin 2010, 304 S., 39,90 (die zehnbändige Gesamtausgabe gibt es zum Subskriptionspreis von 29,90 pro Band)

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