Ab in die Tonne, TV-Kritikus!

Literaturkanon Denis Scheck empfiehlt 100 beste Bücher. Emanzipatorische Werke kommen eher nicht vor, aber ein paar Frauen
Ausgabe 47/2019
Was man nicht im Kopf hat, hat man drauf
Was man nicht im Kopf hat, hat man drauf

Foto: Imago Images/VIADATA

Der literarische Kanon ist etwas von und für alte weiße heterosexuelle Männer. So wie den kürzlich verstorbenen Harold Bloom, der in The Western Canon (1994) 22 Männer und vier Frauen zur Essenz der Weltliteratur gekürt hat. Shakespeare und der Rest also. Denis Scheck hat nun seinen persönlichen Kanon vorgelegt, basierend auf einer Kolumne in der Zeitung Die Welt.

Bekannt ist der Fernsehkritiker ja dafür, vor einer nervös zitternden Kamera ihm ungenügend erscheinende Bücher ins Altpapier zu entsorgen: eine treffende mediale Inszenierung für den Status, den das Kulturgut Buch im digitalen Zeitalter besitzt. Wie aber ist mit Schecks Kanon zu verfahren? Top oder Flop? Buchregal oder Recyclingtonne? Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Struppi“ verspricht Scheck im Untertitel. Zuerst aber ist sein Vorwort zu bewältigen: Scheck feiert emphatisch die lebensverändernde Wirkung der Literatur, preist sie dafür, uns Einsicht in unsere existenzielle Einsamkeit zu verschaffen, und lobt das Lesen als Einübung aufs Scheitern.

Das klingt mehr nach Kafka als einem Buch, das sich vor allem an Nicht- und Wenigleser richtet. Dazu passt, dass Scheck seine Lesebiografie als Kind und Jugendlicher aufarbeitet: Signalhaft an erster Stelle steht Lindgrens Karlsson vom Dach; es folgen dann neben Tim und Struppi noch die Peanuts, Der Herr der Ringe sowie der scheinbar unverzichtbare Donald Duck. Die Intention ist leicht durchschaubar: Nur keinen Verdacht elitärer Gesinnung aufkommen lassen! Belesen, aber populistisch. Wie in der unvermeidlichen Hymne auf Harry Potter: Scheck rühmt J. K. Rowling dafür, geschafft haben, was nur Franz Kafka, Albert Camus oder Samuel Beckett vermochten: dem „Kulturbetrieb den alten Glauben an die Macht des Buches“ zurückzugeben.

Kolmar, Christensen, Hypatia

Was so eminent verquer ist an seinem Vergleich, scheint ihm gar nicht aufzufallen. Zumindest hat Scheck auf 50 Shades of Grey verzichtet. Das hätte sich nicht gut gefügt in die beachtliche Liste von Autorinnen, die er aufgenommen hat, sei es aus ganzem Herzen, aus marketingtechnischen Gründen oder nur sozialem Druck, nicht als Chauvinist in der Bloom-Nachfolge dazustehen. Neben Virginia Woolf und Jane Austen fanden auch Ingeborg Bachmann und Simone de Beauvoir, Sappho, Katherine Mansfield und Gertrud Kolmar Eingang in Schecks Kanon. 22 Frauen – kein schlechter Schnitt, wenngleich keine Parität. „Beschweren Sie sich beim Patriarchat!“, rät Scheck, H. M. Enzensberger zitierend, potenziellen Kritikerinnen.

Mit Hypatia als Nummer 100 will Scheck ein aufrüttelndes Signal setzen: Von der spätantiken Mathematikerin, Astronomin und Philosophin, die im fünften Jahrhundert in Alexandria lebte und protofeministisch ihren Platz im öffentlichen Leben beanspruchte, ist kein einziges Wort überliefert. Scheck schwärmt: „Hypatia ist ein Symbol für jene, deren Nachruhm im Keim erstickt wurde. Die man zum Schweigen gebracht hat, die man zum Verstummen gezwungen, an den Rand und ins Abseits gedrängt hat. Hypatia vertritt all die, die es nicht in diesen Kanon geschafft haben, obwohl sie es verdient hätten.“

Das mit dem verdienten Platz in Listen vom Stil der „Die 100 besten ...“ ist so eine Sache. Scheck selbst benennt etwa Herman Melville, Primo Levi und Thomas Bernhard als Kandidaten, die es knapp nicht geschafft haben. Auf evidente Lücken aufmerksam zu machen, ist freilich ebenso leicht wie billig. Dennoch seien exemplarisch zwei weitere Namen genannt, nämlich Peter Weiss und Heiner Müller. Signifikante Leerstellen: Literatur mit emanzipativem Anspruch hat im bürgerlichen Kanon des Fernsehkritikers keinen Platz.

Das wird die meisten Käufer nicht stören. Negativ auffallen aber dürfte die fehlende stilistische Eleganz, sowie seine Tendenz, seitenlange Zitate aus den diskutierten Werken zu bringen, die nicht selten mehr als die Hälfte der Einträge einnehmen. Dennoch gelingen ihm immer wieder wundervolle, lesenswerte Empfehlungen, wie etwa die zu Camus’ Der Fremde, zu Goethes Faust oder Prousts Romanwerk. Auch lassen sich einige Entdeckungen machen; Hinweisen auf die SF-Autorin Ursula K. Le Guin oder die Lyrikerin Inger Christensen folgt man gerne und mit Gewinn.

Wie also lautet der abschließende Urteilsspruch dieser Kritik? Nun, Schecks Kanon taugt allemal als Orientierungshilfe für literarisch Orientierungsbedürftige. Passionierte Literaturfreunde aber sollten lieber auf einen Kauf verzichten, denn sie könnten versucht sein, sich des Bandes nach der Lektüre kurzerhand zu entledigen. Obwohl Bücher in die Altpapiertonne zu werfen ein barbarischer Akt ist.

Info

Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Struppi“ Denis Scheck Piper Verlag 2019, 480 S., 25 €

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