Der Brexit in mir

Identität Kate Connolly erforscht ihre deutsch-britische Seele. Mit Gewinn?
Ausgabe 05/2019
Brexit-Gegner postieren Proteststicker an einen Bus der Brexit-Befürworter im Zuge einer Protestveranstaltung im Dezember
Brexit-Gegner postieren Proteststicker an einen Bus der Brexit-Befürworter im Zuge einer Protestveranstaltung im Dezember

Foto: Ben Stansall/AFP/Getty Images

Der Brexit kommt, so viel darf als nahezu sicher gelten. Und damit der Wunsch, diesen politischen Irrsinn zu verstehen, der die Briten starrköpfig ins wirtschaftliche Desaster und die weltpolitische Isolation stürzen lässt. Es besteht Erklärungsbedarf. Einige Bücher sind schon erschienen, die das Unverständliche begreiflich machen wollen. Der klügste dieser Versuche ist wohl Brexismus oder: Verortungsversuche im Dazwischen, des seit Jahrzehnten in London lebenden Literaturwissenschaftlers Rüdiger Görner. Der neueste Beitrag des Brexitbücherreigens bringt eine so noch nicht berücksichtigte Perspektive: Kate Connolly versucht in Exit Brexit, den Wahnsinn der Trennungspolitik aus der Sicht einer langjährigen englischen Auslandskorrespondentin nicht zuletzt sich selbst zu erklären.

Dazu hätte sie den Brexit aber in den Kontext von aktuellem europäischen Populismus und neurechter Identitätspolitik einordnen müssen, aber Connolly, Berlin-Korrespondentin des Guardian, beschränkt sich allein auf die ihr wohlvertraute englische Perspektive.

Dafür vermag sie im ersten Teil des Buches einen hervorragend lesbaren Bogen zu spannen von Churchills Ideen über die Vereinigten Staaten von Europa bis zur gegenwärtigen Misere. So lässt sich nachvollziehen, wie die opportunistische Partei- und Machtpolitik der traditionell europaskeptischen Konservativen zu einer Reihe eklatanter Fehleinschätzungen und schließlich zur Brexittragödie geführt hat.

Vater: Remain. Mutter: Leave

Ein blinder Punkt ihrer Analyse aber bleibt, erstaunlicherweise, die Rolle der Gossenpresse, deren massive Brexit-Propaganda und Lügen ganz wesentlich zur europafeindlichen Aufhetzung der Bevölkerung beigetragen haben. Allerdings kann Connolly sehr anschaulich zeigen, welcher Riss seit dem Referendum von 2016 durch die britische Gesellschaft geht. Dieser Riss verläuft auch quer durch ihre englische Familie: Während der Vater für Remain stimmte, optierte die Mutter für Leave. Schlimmer noch: Nach einiger Zeit bekennt der Vater, seine Wahl zu bereuen. Auf die empörte Frage, wie die Eltern es rechtfertigen können, die Zukunft ihrer in Deutschland geborenen Enkel so zu untergraben, fällt ihnen nur die Entschuldigung ein, man sei nur gegen das Brüsseler EU-Monster, nicht gegen Europa an sich. Connolly geht nicht darauf ein, aber die familiäre Konstellation steht exemplarisch für den Umstand, dass eine erneute Volksabstimmung mit großer Wahrscheinlichkeit für Remain ausfallen dürfte, weil mittlerweile Hundertausende von alten Brexit-Befürwortern gestorben sind und die vielen proeuropäischen Jungwähler nun geschlossener zur Wahlurne gehen würden. Weswegen weder die Regierung noch die Opposition die People’s Vote als einzig sinnvolle Lösung zulassen werden.

Schade auch, dass Connolly keinen Versuch wagt, die wunderliche Geistesverfassung der vormaligen Remain-Befürworterin Theresa May zu erklären. Warum die Pastorentochter ihr Land komplett uneinsichtig gegen die Wand fährt und die Gesellschaft bis zur Selbstzerfleischung spaltet, wäre eine Spekulation wert. Connolly aber erforscht lieber die eigene deutsch-britische Seele: Sie versucht herauszufinden, was die als Reaktion auf den Referendumsschock gefällte Entscheidung, einen deutschen Pass zu beantragen, für ihre englische Identität bedeutet. Das ist meistenteils amüsant und spannend zu lesen, insbesondere für alle, die mit der oft pragmatischen und gelegentlich bizarren englischen Kultur nicht völlig vertraut sind.

Bedauerlicherweise demonstriert sie eine oftmals bestürzende Naivität in der Reflexion ihrer nationalen Identität. Dass die ein soziales Konstrukt ist und nicht eine per Geburt verankerte, gottgegebene Veranlagung, vermag die Britin offenkundig nicht zu erkennen. Ihre zweite, deutsche, Staatsangehörigkeit kann sie nicht als reinen Verwaltungsakt begreifen, der ihr internationale Reisen und deutschen Behördenkram erleichtern wird. Nein, sie betrachtet den Pass teils als willkommene Ergänzung, teils als potenzielle Bedrohung ihrer Identität. Just diese unwillentliche Selbstentblößung ist für deutsche Leser interessant. Sie verrät sehr viel darüber, wie tief nationalistische Denkweisen in der englischen Kultur verankert sind. Das mag vielleicht das Widersinnige erklären: Der Brexit ist Ausdruck eines identitätspolitischen Defizits der Engländer. Ein letztes, selbstzerstörerisches Aufbäumen des Nationalismus.

Info

Exit Brexit. Wie ich Deutsche wurde Kate Connolly Kirsten Riesselmann (Übers.), Hanser Verlag 2019, 302 S., 19 €

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