Grandios unlesbar: „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ von Marianne Fritz
Extremautorin Marianne Fritz sabotierte die Normsprache, um von jener proletarischen Wirklichkeit zu erzählen, von der die bürgerliche Literatur nichts wissen will. Die österreichische Schriftstellerin wird endlich wiederentdeckt
Die österreichische Schriftstellerin Marianne Fritz wird endlich wieder entdeckt
Foto: Digne M. Marcovicz/Ullstein
Krasser als im Fall der Marianne Fritz lässt sich das Missverhältnis zwischen künstlerischer Leistung und kritischer Nichtbeachtung im Literaturbetrieb kaum fassen. Das so wunderliche wie erratische Werk der österreichischen Schriftstellerin (1948 – 2007) steht aufgrund seiner monströsen Ausmaße nicht nur in der deutschsprachigen Literatur singulär da. Obwohl es sich um das wohl längste Erzählunternehmen der Weltliteratur handelt, wurde es zu Lebzeiten von der literarischen Öffentlichkeit kaum beachtet. Dabei erschien das Monumentalepos keineswegs an entlegener Stelle, sondern wurde, entgegen jeder verlegerischer Kosten-Nutzen-Kalkulation, bei Suhrkamp publiziert.
Dass es ein Vierteljahrhundert gedauert hat, bis durch die Neuausgabe de
ausgabe des 1978 erschienenen Erstlings Die Schwerkraft der Verhältnisse wieder ein Titel von Marianne Fritz zugänglich wird, spricht Bände über das Vergessen, dem die Extremautorin inzwischen anheimgefallen ist, bei Suhrkamp und anderswo. Diesen Außenseiterstatus hat Fritz allerdings durch bewusste Selbstmarginalisierung angestrebt. Ab 1976 widmete sie sich in ihrer kleinen Wiener Altbauwohnung in völliger Zurückgezogenheit der Vollendung ihres Lebenswerks Die Festung. Das hieß: keine Lesungen, keine Interviews, keine Besuche. Durch solche Isolation war sie eigentlich selbst eine Gefangene jener Festung aus Sprache, die sie in rigoros zwölfstündigen Arbeitstagen obsessiv errichtete.Rücksichtslos setzte sich Fritz in ihrem Schreibkerker über alle Normen, Konventionen, Übereinkünfte der Gattung Roman hinweg, um einen atemberaubenden Gegenentwurf zur Erzählliteratur anderer Schriftsteller zu liefern. Ein literarisch radikales Werk als Widerspruch zu sozialem und politischem Unrecht. Worum es dem Arbeiterkind Fritz ging, war, jene proletarische Wirklichkeit zu erzählen, von der bürgerliche Literatur nichts wissen will: „Nicht-Geschichte, die trotzdem war“.Marianne Fritz plante ihr Monumentalwerk seit ihrem DebütDie Schwerkraft der Verhältnisse war ein furioses Debüt. Auf etwa 150 Seiten erzählte Fritz die Tragödie der Berta Schrei, die 1958 als proletarische Medea ihre geistig zurückgebliebenen Kinder tötet, um sie vor der „Schwerkraft der Verhältnisse“ zu schützen, die im politisch vergifteten Österreich der Nachkriegszeit herrscht. Das unaufgearbeitete Erbe des Faschismus, reaktionäre Kultur und repressive soziale Strukturen zwingen die „einfachen Leute“ in ein glückloses Leben. Berta landet in der psychiatrischen Anstalt, im Volksmund als „Festung“ bekannt. Sie habe den Plan für ihr Monumentalwerk bereits im Kopf gehabt, als sie debütierte, hat Fritz einmal behauptet. Man darf es ihr glauben.Nur zwei Jahre nach der Erzählung folgte der umfangreiche Dorfroman Das Kind der Gewalt und die Sterne der Romani (1980). Nun ging es Fritz um die autoritäre Ordnung in der Provinz anhand mehrerer Familienschicksale. Im Zentrum steht der Großbauer Kaspar Zweifel. Dieser lehnt sich gegen die sozialen und religiösen Normen im Österreich der Zwischenkriegszeit auf. Als sein Behauptungsversuch jedoch scheitert, wechselt er auf die Seite von Chauvinismus und Patriarchalismus: Zweifel hält Reden gegen die Überfremdung der Gegend und vergewaltigt eine Roma-Frau. Als der Romani-Clan aus dem Dorf vertrieben wird, setzt das Missbrauchsopfer sein „Kind der Gewalt“ in einer blasphemischen Protestgeste in der Pfarrkirche aus.Der in merklich komplexerer Sprache und verschachtelter Konstruktion geschriebene Roman war weit über 500 Seiten lang. Doch das war nichts gegen das über 15 Kilogramm schwere Manuskript, das Fritz ihrem Verlag 1984 auf den Tisch legte: Dessen Sprache du nicht verstehst erschien in zwölf Bänden im Umfang von fast 3.400 Seiten. Der Titel ist beim Wort zu nehmen: Durch permanente Verletzungen der Regeln von Orthografie, Syntax, Grammatik und Interpunktion erschuf sich Fritz eine höchst eigenwillige Sprache jenseits der Normsprache und voller poetischer Neuschöpfungen; so heißt es etwa „Zickzackgroll“ statt Blitz, Alkohol wird umschrieben als „geistiger Rat aus Flaschen“.Schwer lesbar zunächst, nach Eingewöhnung aber durchaus nachvollziehbar berichtet Fritz in vielen Verzweigungen und Nebenepisoden von der Proletarierfamilie Null aus der Marktgemeinde Nirgendwo, an deren Biografien sich wieder und wieder die Unmöglichkeit zeigt, der „Schwerkraft der Verhältnisse“ zu entkommen. Kernstrang der im Ersten Weltkrieg angesiedelten Handlung ist die Geschichte des fahnenflüchtigen Johannes Null, der nicht länger für die Interessen der Machthaber kämpfen will. Er versteckt sich, wird aber von seinem Geliebten, dem Pfarrer Pepi Fröschl, verraten und stirbt vor dem Hinrichtungskommando. Personen und Schauplätze der vorigen Bücher tauchen wieder auf, der fantastische Kosmos von Marianne Fritz konstituiert spätestens jetzt eine eindrucksvolle proletarische Gegengeschichte, einen literarischen Aufschrei der Namenlosen gegen die Herrschaft der „Menschenverhinderer“.Normsprache als Ausdruck sozialer HerrschaftAb Dessen Sprache du nicht verstehst wandte sich die Literaturkritik mit dem larmoyanten Befund „unlesbar“ weitenteils von Fritz ab. Kein Wunder. Doch ihr dezidiert diffiziler Stil war zutiefst verknüpft mit ihrer Protesthaltung gegen die Normsprache als Ausdruck sozialer Herrschaft. Unbeirrbar ging Fritz weiter bis zum Äußersten. Eine Dekade lang arbeitete sie an ihrem Opus magnum: Das dreiteilige Extremwerk Naturgemäß steigerte die quantitative Explosion, die stilistische Radikalität und die formale Überschreitung aller Konventionen ins Inkommensurable. Naturgemäß ist tatsächlich unlesbar – es kann allenfalls mühselig entziffert werden. Teil eins, Entweder Angstschweiß. Ohnend. Oder Pluralhaft (1996), firmiert als faksimiliertes Typoskript im Quartformat in fünf Bänden bei einer Länge von insgesamt 2.000 Seiten. Teil zwei, Es ist ein Ros entsprungen. Wedernoch heißt sie (1998), besteht aus 2.500 Typoskript-Seiten im A4-Format, erneut in fünf Bänden. Teil drei, Oder doch / Noli me tangere / „Rührmichnichtan!“, ist seit einiger Zeit online verfügbar.Die Handlung von Naturgemäß, sofern dieser Begriff auf Fritzens Nicht-Prosa passt, spielt während des Ersten Weltkriegs im polnischen Przemyśl, wo es zu blutigen Schlachten um die dortige Festung kam. Tausende sinnlose Tode, der Wahnsinn des Krieges im Kleinen. Schon für die Niederschrift von Dessen Sprache du nicht verstehst unternahm Fritz im Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs umfangreiche historische Quellenstudien, die in Naturgemäß die dokumentarische Basis ihres entgrenzten Erzählwillens liefern. Vom linearen Textfluss hat sich Fritz nun verabschiedet. In Naturgemäß herrscht ein chaotisches Durcheinander diverser Schrifttypen, der Text wird mit erläuternden Skizzen versehen, in tabellenartige Anordnungen gezwängt, in Formelschrift übereinander arrangiert oder zu Blöcken gruppiert, die kreuz und quer auf der Seite angeordnet und durch Linien oder Pfeile verbunden sind. Zerrissene und zerklüftete Textgelände, die aufgrund zweier Paginierungssysteme zudem nicht lineare Lektüre-Expeditionen durch den literarischen Dschungel ermöglichen.Die Festung ist ein Erzählwerk wie kein anderes. In Radikalität, Eigensinn und Ausmaß lässt es solche anerkannten Megaprojekte wie Finnegangs Wake von Joyce, Zettel’s Traum von Arno Schmidt oder Musils Mann ohne Eigenschaften weit hinter sich. Fritz wagte eine magische Wette, nämlich ob sich mit den Mitteln der Literatur die Welt aus den Angeln heben lässt, wenn man alles, wirklich alles riskiert, indem man seine ganze Lebenszeit in die Waagschale wirft: „Ich lebe, um die Festung zu schreiben.“ Extremistischer als Marianne Fritz war wohl niemand in der Literatur. Ihre meisterhafte kleine Erzählung vom gescheiterten Versuch, die „Schwerkraft der Verhältnisse“ zu überwinden, die uns allen aufgezwungen werden, ist die lesenswerte Keimzelle des maßlosesten literarischen Unterfangens in deutscher Sprache: Die Festung, eine literarische Materialschlacht für eine ganz andere Ordnung der Dinge.Placeholder infobox-1