Als 1998, rund zwei Jahre nach dem Tod von Heiner Müller, die Werkausgabe seiner Schriften durch den Gedichte-Band eröffnet wurde, war das Erstaunen groß. In seinen letzten Lebensjahren hatte Müller vornehmlich durch Auftritte als orakelnder Pointenlieferant in Alexander Kluges Fernsehsendungen auf sich aufmerksam gemacht. Er gab ein Interview nach dem anderen, avancierte zum linksintellektuellen Popstar – der „Kommunist“ als Mediendarling. Dabei waren die neunziger Jahre alles andere als eine gute Zeit für Müller: Erst in eine veritable Schreibkrise geraten nach dem Verschwinden des Staates, an dem er sich mit seinen Dramen so literarisch produktiv gerieben hatte, folgte dann die unselige Krebsdiagnose.
Seine tödliche Krankheit hat Müller darauf zurückgeführt, dass er keine Dramen mehr schreiben konnte, weil der vorläufige Sieg des Kapitalismus kein Material für Bühnenverse lieferte. Oder wie er in einer Nachlassnotiz aus dem Jahr 1990 feststellte: „Gegen die Drohung der Pariser Commune KEINER ODER ALLE steht das Prinzip Hoffnung der Marktwirtschaft FÜR ALLE REICHT ES NICHT, das die Massen mobilisiert, damit die Eliten überleben können. Ich rede nicht von geistigen Eliten. Der SIEG DES KAPITALISMUS geht die Banken an, nicht die Literatur. Er ist kein Gegenstand. Wichtig ist die Erfahrung der Niederlage.“
Ersatz
Dass Müller dennoch weiterschrieb in einer Zeit der politischen, künstlerischen und körperlichen Niederlage zeigte sich in seiner lyrischen Produktion vor der Jahrtausendwende. Kaum gestorben, konnte man Müller dank der von Frank Hörnigk betreuten Werkausgabe als bedeutenden Lyriker entdecken. Stolze 330 Seiten und 254 Gedichte enthielt der Band, darunter 84 Texte erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht. Furore machten insbesondere die epischen Langgedichte wie Ajax, zum Beispiel, Senecas Tod oder Mommsens Block, die den Germanisten ordentlich Stoff zur Exegese lieferten. Vertreter dieser Berufsgruppe äußerten jedoch auch eine ganze Reihe von Vorbehalten gegen den Gedichte-Band, die von Detailfragen hinsichtlich der Textfassungen bis zur Grundsätzlicherem wie den Auswahlkriterien reichten. Wenn nun jedenfalls nach anderthalb Jahrzehnten Müllers Gesammelte Gedichte erneut erscheinen, so ist das Buch vom Verlag ausdrücklich als Ersatz des vorherigen Lyrik-Bands annonciert.
Gegliedert ist Warten auf der Gegenschräge (ein Müller-Zitat) in vier jeweils chronologisch organsierte Abteilungen: Zuerst werden die Texte nachgedruckt, die Müller noch selbst für den 1992 erschienenen Band Gedichte 1949-89 ausgewählt hatte – gleichsam ein Best-Of und zugleich Querschnitt durch vierzig Jahre Lyrik. Dann folgen, zweitens, sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte und, drittens, jene aus dem Nachlass. Was letztere betrifft, wird der Korpus nun erheblich erweitert. Dies gilt zumal für die im wahrsten Sinne des Wortes am Sterbebett des Dichters verfassten Texte als krankheitsbedingt bereits die Handschrift versagt: „Nur die Schreibmaschine / Hält mich noch aus dem Abgrund dem Schweigen / Das der Protagonist meiner Zukunft ist.“ Abschließend folgen noch knapp vierzig, zumeist knappe Entwürfe aus dem Nachlass sowie ein schmaler aber informativer Bildteil, der Faksimiles einzelner Blätter aus dem Archiv samt Transkription der Müller’schen Krakelschrift liefert.
Hervorragender Kommentarteil
Soweit, so erfreulich. Doch Quantität bedeutet nicht automatisch Qualität, und nur weil ein Müller-Poem bisher unbekannt war, ist es nicht automatisch gelungen. Zwar enthält der Band einige bemerkenswerte Fundstücke, doch zugleich sind viele der erstmals vorgestellten Texte nicht unbedingt aufregend. Wer also auf neuentdeckte Meisterwerke hofft, hat falsch spekuliert. Der Maler Martin Kippenberger erklärte einmal, dass er bei seinen Ausstellungen immer auch ein paar schlechte Bilder aufhänge, damit die guten Kunstwerke umso besser wirken. Und so ist auch dieser Band zu lesen: Gerade in der Differenz zu den weniger gelungenen Texten zeigt sich, zu welchen Höhen der Lyriker fähig war. Denn das unterstreicht die Neuausgabe höchst eindrucksvoll: Heiner Müller hat nicht nur das zweifellos bedeutsamste (post)dramatische Werk des späten 20. Jahrhunderts hinterlassen, das noch sehr lange uneinholbar bleiben wird, er muss ebenso zur Handvoll der wichtigsten Gegenwartslyriker unserer Sprache gezählt werden.
Langes und Kurzes, Bekanntes und Unbekanntes, Poetisches und Episches, Veröffentlichtes und Unveröffentlichtes, Humoristisches und Ernstes, Antikes und Modernes, Deutsches und Englisches, Ausgeführtes und Unfertiges, vor allem aber – wie angedeutet – viel Herausragendes aber auch Verzichtbares erwartet einen bei der Lektüre von Warten auf der Gegenschräge. Damit nicht genug: Die Herausgeberin Kristin Schulz gibt in ihrem hervorragenden Kommentarteil am Ende des Bandes, wo nötig, ausführlich, nie aber zu philologisch ermüdend Auskunft zu Varianten bzw. über Verbindungen mit anderen Texten. Ebenso skizziert sie fachkundig den biografischen wie historischen Entstehungskontext. Das vermeidet manches Missverständnis, wie etwa bei diesem Gedicht: „IM GLASHAUS / Sitzen die Schlächter. / Nicht mehr furchtbar, sondern / Sichtbar.“ Wer hier einen Bezug zu den Glaskästen vermutet, in denen Naziverbrecher wie Eichmann vor dem Richter saßen, liegt falsch, denn der Text stammt aus den frühen fünfziger Jahren.
Drastische Gedichte
Diesen Band aus dem chaotischen Wust an tausenden von Notizzetteln mit oft nahezu unlesbarer Handschrift destilliert zu haben, ist eine immense Leistung von Kristin Schulz, die nicht hoch genug zu loben ist. Was die Spannbreite der darin dargebotenen Gedichtformen betrifft, wird einiges geboten: Balladen, Sonette, Lehrgedichte, Nachdichtungen, lyrische Sentenzen und manch andere Lyrikform mehr sind vertreten. Auch thematisch deckte Müller ein breites Feld ab: Von den vaterländischen Aufbaugedichten und den kulturpolitisch erzwungenen Hymnen auf Stalin, Lenin, Mao als auch den unbekannten Traktoristen reicht das Spektrum über intime Liebes- und einfühlsame Widmungsgedichte bis zu den großartigen Monumentalpoemen von Post-1989, in denen Müller seine Abscheu vor den neuen Machthabern, sich selbst befragend, in Verse brachte, denn: „Wer wollte das aufschreiben / Mit Leidenschaft Haß lohnt nicht / Verachtung läuft leer“.
Die im ersten Gedichtband absenten priapischen, will sagen: pornografischen Gedichte Müllers werden nun einer womöglich neugierigen Öffentlichkeit vorgestellt. Sie lassen an Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig, wenngleich Müllers sexuelle Vorlieben durchaus im Rahmen blieben, soweit sich dies auf der schmalen Textbasis sagen lässt. Weitaus interessanter sind die berührenden Gedichte, die Müller in seinen letzten Lebensjahren für seine Frau Brigitte Mayer und seine Tochter Anna geschrieben hat, sowie die oft schonungslosen Bestandsaufnahmen in Anbetracht des Todes, mit denen Müller dem unaufhaltsamen Ende schreibend Paroli bot. Eines davon lautet:
die toten warten auf der gegenschraege
manchmal halten sie eine hand ins licht
als lebten sie eh sie sich ganz zurueckziehn
in ihr gewohntes dunkel das uns blendet
Warten auf der Gegenschräge. Gesammelte Gedichte. Heiner Müller Hrsg. v. Kristin Schulz Suhrkamp 2014, 676 S., 49,95 €
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