Leider misslungen: Carole Angiers Biografie von W.G. Sebald
Biografie Unser Autor Uwe Schütte hat bei W.G. Sebald promoviert. Carole Angiers erste Biografie des bedeutenden Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers hält er für misslungen
Die Gattung der Biografie gehört zu den Paradedisziplinen der britischen Kultur. Zumal was die „literary biography“ betrifft: dicke Wälzer, in denen anhand eines Schriftstellerlebens ein zwischen aufwendiger Recherche und vorsichtiger Konjektur balanciertes Porträt entsteht, wobei nicht selten ein ganzes Panorama der jeweiligen Epoche entfaltet wird. Man denke nur an Glanzlichter wie Richard Ellmanns monumentale Biografie von James Joyce oder Peter Ackroyds bestechende Lebensbeschreibungen von Charles Dickens oder William Blake.
Dem Berufszweig der Biografen gehört auch Carole Angier an, die sich fast ein Jahrzehnt lang mit einem deutschen Autor beschäftigte. Ein Autor, den deutsche Literaturwissenschaftler gerne als „Biografisten“ schmä
n“ schmähten: den Auslandsgermanisten und Schriftsteller W. G. Sebald. Dessen literaturkritische Schriften waren nicht selten persönliche Angriffe auf renommierte Autoren wie Alfred Döblin oder Alfred Andersch, wobei deren biografische Verfehlungen gegen ihr Werk gewendet werden, während Sebalds in den englischsprachigen Ländern gefeiertes Prosawerk weitgehend aus Nacherzählungen oftmals jüdischer Lebensläufe besteht.Als Angiers Buch vergangenes Jahr im Original erschien, war die Kritik geteilt: während Rezensenten ohne Sebald-Expertise den Inhalt affirmativ nacherzählten, gab es eine Reihe langer Verrisse von Autorenkollegen wie Ben Lerner bis Literaturprofessorinnen wie Lara Feigel, die herausstellten, wie grundlegend verkorkst es geraten war.Einige Literaturkritiker nahmen das Buch zum Anlass woker Appropriationsdiskussionen, fokussierte Angiers Darstellung doch insbesondere auf die oft freie, teils unautorisierte oder unmarkierte Benutzung jüdischer Emigrantenschicksale durch Sebald. Diese skandalisierende Debatte griff schnell auf Deutschland über, wo etwa Stephan Wackwitz den Vorwürfen eher sekundierte, während Sebalds Lektor Wolfgang Matz ihn vehement in Schutz nahm. Das Wesentliche aber übersah man: Der wahre Skandal war die Chuzpe, mit der Angier ihren Untersuchungsgegenstand für eigene Zwecke derartig appropriierte, dass das Resultat eher einem Zerrbild ähnelt. Dabei hätte man gewarnt sein können: Craig Brown, der unlängst eine formidable Beatles-Biografie publizierte, führt Angier in einem Essay über die Kunst der Biografie als exemplarisches Negativbeispiel auf, indem er ihre Biografie über Primo Levi seziert. Nicht nur ihre besitzergreifende Geste, auf den Porträtierten per Vornamen zu referieren, um so Vertraulichkeit zu simulieren, stört Brown, sondern ebenso Angiers „lockeres Verhältnis zur Wahrheit“. Ihr Kardinalfehler aber liege darin, dass die immense Komplexität eines Lebens wie das des Auschwitz-Überlebenden Levi bei ihr zu einer einfachen Wahrheit gerinnt; Angier, so Brown, habe Primo Levis Leben als neurotisches Melodrama reinszeniert.Um keinen Deut anders ist ihre Bemächtigung von Sebalds Leben geraten. An die Stelle von Differenzierungen treten Klischees und Vulgärpsychologie, statt Archivrecherchen zu präsentieren, referiert Angier lieber das Geschwätz ehemaliger Schulfreunde oder die Erinnerungen zweier Frauen, die romantische Gefühle für Sebald hegten. Was Angier als überraschende Entdeckungen ausgibt, sind in der deutschsprachigen Sebaldforschung altbekannte Fakten. Die kategoriale Differenz zwischen Literatur und Realität scheint ihr offensichtlich unbekannt, da sie Sebalds Bücher einem Faktencheck unterzieht, um Abweichungen als „Lügen“ oder „Schwindeleien“ zu enttarnen. Damit baut sie allenthalben Popanze auf, deren Abtragung dann zu den absonderlichsten Argumentationsmanövern führen, die in verqueren Widerspruchsketten resultieren.Exemplarisch dafür ist jener Umstand, den Angier offenkundig als narzisstische Kränkung empfand: Das reale Modell der literarischen Figur Henry Selwyn, so erklärte ihr Sebald in einem Interview, sei jüdisch gewesen. Im Verlauf der Recherche stieß Angier auf Philip Rhoades Buckton – dessen Name übrigens bereits in einer Dissertation von 2010 genannt wurde – als Vorbild der Figur. Mehr noch, sie fand heraus, dass der englische Landarzt keine jüdischen Wurzeln besaß. In Angiers verquerer Sichtweise war das eine Katastrophe. Ihr Idol Sebald hatte sie belogen und damit „Holocaust-Leugnern geradezu den Boden bereitet“, da Selwyn auf Leser glaubhaft jüdisch wirkt. Gegen den schrecklichen Verdacht, dem Antisemitismus Vorschub zu leisten, nimmt sie Sebald dann sogleich in Schutz, denn in ihrer hyperbolischen Diktion figuriert er als nicht weniger als „der exquisiteste Schriftsteller, den ich kenne“. Sebald erscheint aus Angiers Sicht gar als eine Erlöserfigur, ist er doch angeblich „der deutsche Schriftsteller, der die Last der Verantwortung für den Holocaust am tiefsten auf sich nahm“. Sebald, der Messias.Man könnte Zeitungsseiten damit füllen, weitere Beispiele zu liefern, aber das würde bedeuten, nur zu wiederholen, was längst schon in den englischen Verrissen herausgearbeitet wurde. Dort kritisierte man zu Recht Angiers penetranten Anspruch, der Sebald vergötternden Gemeinde endlich die letzte Wahrheit über ihn zu enthüllen: „Ich erinnere Sie“, wendet sich Angier direkt an uns, „an die Wahrheit. Das ist die Aufgabe des Biografen (…) und ich weiß, Sebald würde mich nicht wollen. Aber ich würde ihm sagen: Du irrst dich.“Abwegige ThesenAngesichts solch impertinenter Übergriffigkeit fehlen einem nicht selten die Worte. Fairerweise muss man betonen, dass Angier in ihrem Vorwort das biografische Hindernis für ein differenziertes Verständnis von Sebald offenlegt: „Ich bin die Tochter von Juden, die vor dem Nationalsozialismus geflohen sind.“ Da sie allerdings die familiären Umstände nicht genauer spezifiziert, wirkt diese Begründung wie eine Rückversicherung gegen Kritik an ihrem vorgefassten, reduktiven Sebald-Bild: „Ich denke, es ist richtig, den Holocaust als zentral für sein Werk zu betrachten. Aber wenn ich ihn zu zentral mache, dann ist das der Grund dafür.“ Einspruch! „Leser eines Buches, das sich als Biografie ausgibt“, so etwa der Kritiker Ryan Ruby, „haben das Recht, eine Ausgewogenheit, Kontextualisierung und Vollständigkeit zu erwarten, was Angiers Werk von Anfang an ablehnt“. Weil nicht sein kann, was für sie nicht sein darf.Zwangsläufig sammeln sich im Verlauf der über 700 Seiten von W. G. Sebald. Nach der Stille die abstrusesten Psychologisierungen, Verdrehungen und Stilisierungen an. Angiers hagiografischer Impetus zwingt sie beispielsweise zu einer Apotheose Sebalds als schriftstellernde Christusfigur, gipfelnd in der frommen Frage: „Warum war er derjenige, der für Deutschland litt, und über Deutschland hinaus für die ganze Welt?“ Nie um eine gewagte Diagnose verlegen, zaubert sie die abwegige Hypothese hervor, dass er an einer extremen „Spiegel- und Berührungssynästhesie“ litt, also einem pathologischen Zustand, der eine extreme Überempfindlichkeit gegenüber den Leiderfahrungen anderer mit sich bringt: „Sein Gespür für das Leiden anderer war auf akute Weise real.“Man darf das Buch von Angier, das Fakten und Aussagen Sebalds verzerrend herausgreift oder strategisch verschweigt, durchaus als Musterfall eines „confirmation bias“ lesen. Geschmacklos und indiskutabel aber wird es, wenn sie zuletzt die These vertritt, der tragische Unfalltod Sebalds im Dezember 2001 infolge eines Aneurysmas sei eine Form von Suizid gewesen: das Herz des messianischen Schmerzensmannes habe die Last des Holocausts nicht länger ertragen können.Die Kategorisierung „Biografie“ verdient W. G. Sebald. Nach der Stille nicht. Was Carole Angier angefertigt hat, ist allenfalls eine biografische Fiktion, eine eitle literarische Hagiografie. Dass der Hanser-Verlag seinem Hausautor den Bärendienst erwiesen hat, dieses misslungene Buch seinen wunderbaren Erzählwerken an die Seite zu stellen, ist nicht zu verstehen.Placeholder infobox-1
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