Mind the gap

Brexit Beim möglichen Ausstieg von Großbritannien aus der EU hilft auch alle Anglophilie nicht
Ausgabe 21/2016
Die Warnung vor dem Spalt lässt sich auch gut auf die Brexit-Debatte anwenden
Die Warnung vor dem Spalt lässt sich auch gut auf die Brexit-Debatte anwenden

Foto: Marianna Massey/Getty Images

Unlängst sah ich in Berlin eines dieser T-Shirts, wie es London-Touristen gerne tragen: Mind the gap stand darauf, jene Sicherheitsansage, die Passagiere der maroden Londoner U-Bahnen vor dem Spalt zwischen Waggon und Bahnsteigkante warnt. Zum sicherheitshysterischen England der Gegenwart passt dieser Spruch deshalb so gut, weil er den Abstand bezeichnet, der Großbritannien von der Europäischen Union trennt.

Mind the gap: Betrachtet man die immense Diskrepanz, die zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland herrscht, so muss man den vielen Deutschen, die von anglophilen Klischees verblendet sind, zurufen: Seht Euch doch mal dieses obszöne Nebeneinander von Subproletariat und Ultra-Reichen an, über dem Ihre Majestät lächelnd thront! Oder die schlechte britische Gesundheitsversorgung. Oder das ruinierte öffentliche Verkehrssystem. Oder die Ghettos und No-go-Areas in den Städten. Oder die an Vulgarität kaum zu überbietende Trink- und Partykultur, die sich ergibt, weil die Pubs um 23 Uhr ihre Pforten schließen.

Den auf ihr Land so stolzen und um ihr Rule, Britannia! so besorgten Briten wiederum möchte ich mit Blick auf das Brexit-Referendum zurufen: Dann tretet doch aus! Donald Trump rät euch ja auch dazu! An kulturellem Austausch mit Deutschland herrscht ohnehin kaum noch Interesse – an den Schulen schafft man Deutsch als Unterrichtsfach allenthalben ab, und die German Departments selbst großer Unis werden reihenweise aufgelöst. Zugleich entstehen etwa in Kreuzberg und Neukölln rein englischsprachige Parallel-Milieus, weil Berliner Mieten und Alkoholpreise im Vergleich zu denen in London oder Birmingham lächerlich gering sind.

Den britischen Matcha-Latte-Hipstern könnte es an den Kragen gehen, wenn mit einem EU-Austritt die Freizügigkeit entfällt. Wenn etwa die Sun, englisches Zentralorgan der Verdummung, entsprechende Stimmung macht, könnte das mehr als nur ein Zünglein an der Waage ausmachen.

Bei einigen deutschen Kollegen, die wie ich in Großbritannien arbeiten, herrscht schon etwas Panik. Ja, man bereitet sich gedanklich schon mal da-rauf vor, eventuell treuer neuer Untertan Ihrer Majestät werden zu müssen. Das ist gar nicht leicht, denn dazu gilt es einen Multiple-Choice-Test zu bestehen, der es in sich hat. Oder wüssten Sie, wann die erste Union-Flagge geschaffen wurde, 1506, 1556, 1606 oder 1656? Oder wie viele Geschworene in einer schottischen Jury sitzen, 12, 14, 15, 18? Dass eine Einbürgerung rund 5.000 Pfund kostet, umgerechnet etwa 6.500 Euro, erscheint da fast als das geringere Übel.

Jedenfalls kann man sich nicht darauf verlassen, dass am 23. Juni alles so glimpflich ausgeht wie 2014, als Schottland sich abspalten wollte. Sollte das Vereinigte Königreich nun die EU verlassen, dürften die europhilen Schotten wohl einen weiteren Absprungversuch wagen. Frankreich wiederum will im Brexit-Fall die derzeitige Grenzabrieglung am Eurotunnel in Calais aufgeben.

Dann hätten die Engländer im nunmehr unvereinigten Königreich neben dem ökonomischen Desaster auch noch einen unwillkommenen Flüchtlingszustrom. Cameron müsste abtreten, ein Populist wie Nigel Farage könnte kommen. Die selbst eingebrockte Bescherung wäre perfekt. Doch vielleicht kann Britannia nur so lernen, dass die Ära der Nationalstaaterei vorbei ist.

Uwe Schütte lebt seit 1992 als Autor und Literaturwissenschaftler in England

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