Teuflische Einsicht

Nachlese Nora Gomringers „Recherche“ traf in Klagenfurt den Geschmack der Jury. Aber wie funktioniert ihr Text eigentlich? Eine Analyse
Ausgabe 29/2015

Mit viel medialem Getöse sind die 39. Tage der deutschsprachigen Literatur über die Bühne gegangen. Die Crux der Klagenfurter Veranstaltung ist altbekannt – erfolgreich sind vor allem effektheischende, für eine Performance zugeschnittene Texte. Tatsächliche literarische Qualität bleibt eher auf der Strecke, wie exemplarisch der Fall von W. G. Sebald zeigt, der 1990 eine Geschichte aus Die Ausgewanderten las und ohne Preis nach England zurückkehrte.

Die symptomatische Diskrepanz zwischen Erfolg und literarischer Qualität kennzeichnet ebenfalls die „Verstörungskomödie“, zu der man Nora Gomringers Siegertext Recherche (v)erklärt hat. Die Entscheidung der Jury wirkt befremdlich, wie auch die Lobpreisungen des Textes durch die Meinungsmacher in den überregionalen Zeitungen eher etwas lustlos wirken. Virtuos ist die Effektmaklerin Gomringer nämlich vor allem darin, in ihrem Text just jene Ingredienzien zusammenzumischen, die versprechen, den Geschmack der Jury breitestmöglich abzudecken.

Dazu beginnt man mit etwas medialem Schnickschnack und zündet den Knalleffekt sofort: „Ist das Mikro an? Test, Test. Ist das Mikro an? O.k. also ich hoffe, so geht’s. Hallo. Hallo. Erster Tag. Mein Name ist Nora Bossong, ich schreibe einen Text beziehungsweise Shit.“ Sich dergestalt als die bekannte Namensvetterin auszugeben, wie frech! Oder gar subversiv? Ob sie vorher gefragt hat? Auf jeden Fall: sehr originell!

Autoren zerlegen

Sich in einen anderen Schriftsteller hineinzuversetzen, das hat doch Georg Büchner ebenso gemacht. Einen Rechercheprozess zu dokumentieren, das könnte sie glatt von Kathrin Röggla haben. Und der fließende Wechsel der Erzählebenen und Perspektiven, fast wie bei Uwe Johnson. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung weiß ohnehin Bescheid, denn dort konstatierte man die unverhoffte Rückkehr von Alfred Döblins Erzählkunst. Doch ein entscheidender Unterschied bleibt: Bei Gomringer fehlt die Gravität, welche die zumeist toten männlichen Autoren auszeichnet; deshalb arbeitet sie fachgerecht auch genügend Humor ein, um jene Leichtigkeit zu erzeugen, die dem Klagenfurter Umfeld geschuldet ist. Es soll sich ja niemand überfordert fühlen in der Jury, und das Studiopublikum soll mitlachen können.

Den entscheidenden Erfolg einer jeden Mischung machen stets die Gewürze aus, mit denen man sie anreichert. Aktueller Realitätsbezug etwa ist ganz wichtig. Erstaunlich fast schon, dass Gomringer in ihren Text die Griechenland-Krise nicht eingebaut hat, aber zumindest die Germanwings-Katastrophe taucht auf, wenn es in den Nora Bossong untergeschobenen Notizen um den „unendlich traurigen Co-Piloten“ geht, über den es heißt: „Dieser Mann war der Teufel des Teufels. Er war einer von uns.“ Eine wahrlich teuflische Einsicht! Ebenso fehlt nicht eine Prise abartiger Sex, denn ausgerechnet die literaturaffine Professorin bestellt sich per Facebook einen Erotikdienstleister, der sie zweimal wöchentlich mit „einem herrlichen blauen Band aus Taft“ (fast) stranguliert, was ihr „für einen kurzen Moment wieder Lust auf das Leben macht.“

Uwe Schütte ist Dozent für Deutsche Kultur und Geschichte an der Aston University in Birmingham, England

Unabdingbar ist auf jeden Fall der rezeptionsästhetische Effekt, mit deiktischer Geste autoreflexiv den performativen Aspekt des Vortrags textuell zu inszenieren, wie spätere Lobredner Gomringers es vielleicht einmal formulieren werden. Auf gut Deutsch gesagt: Es muss bei einem Text für Klagenfurt unbedingt auf Klagenfurt angespielt werden, also produziert Nora Gomringer solch Juroren-Sympathie heischende Sätze wie: „Es sind wieder diese Tage, in denen der Wettbewerb bei 3sat gezeigt wird. […] Und ich sehe mir an, wie sie die jungen und mitteljungen und alten Autoren zerlegen.“ Wer unter den Juroren möchte danach noch ernstlich diese mitteljunge Autorin zerlegen, zumal sie mit einem tautologischen Schmeichelmanöver insinuiert, dass der Klagenfurter Medienzirkus was mit Literatur zu tun hat, nur weil er in einem Prosatext literarisiert wird.

Denn ja, eine tragische Geschichte erzählt Recherche immerhin auch: Es geht um den Tod eines 13-Jährigen, der sich offenbar in Suizidabsicht zu Tode gestürzt hat, weil er das Opfer homophoben Mobbings geworden ist. So jedenfalls lautet das vorläufige Ergebnis der Nachforschungen, welche die fiktive Bossong in dem Wohnhaus anstellt, vor dem der Jugendliche zu Tode kam. Gomringer vermag so eine wahre Freak Show an Bewohnern vorzuführen (der Messie, die reklusive Professorin, der sprachunmächtige Vater, die gestörte Schauspielschülerin etc.), anhand von deren Sprachmasken sie ihr schriftstellerisches Talent demonstrieren kann, allerdings mit bescheidenen handwerklichen Ergebnissen: So wie Gomringer ihren Typen die Worte in den Mund legt, würde in Wirklichkeit kein entsprechender Mensch sprechen.

Ein bissel Gewissen

Diese Kunstfiguren passen aber insofern zur erzählten Welt, die bar jedes Bezugs zur realen Problematik solcher Mobbing-Fälle ist, als der Text eben nur ein auf Kritikererfolg berechnetes Konstrukt ist. „Vieles am Schreiben ist widerlich“, lässt Gomringer ihre Bossong einmal selbstkritisch das eigene Tun reflektieren. Zwar nicht widerlich, aber vielleicht abgeschmackt angesichts tatsächlicher Fälle fatalen Mobbings ist es, einen bloß als Aufhänger zu benutzen, um vorsorglich allfällige Jury-Vorwürfe auszuräumen, die gegenüber Wettbewerbs-Texten bestehen, die nur reine Selbstbefindlichkeit liefern. Ein bissel soziales Gewissen kann halt nie schaden!

Allerdings scheint das Handlungsgerüst eines traurigen Endes das literarisch tatsächlich gelungene Ende des Textes provoziert zu haben, denn in den letzten beiden Absätzen gewinnt Recherche unverhofft an sprachlicher Qualität, verliert seine kalkulierte Eindeutigkeit, wird poetisch und bildkräftig, um im letzten Satz mit einem gelungenen Bogen zu schließen. So wird handgreiflich, wie gut dieser Text hätte ausfallen können, wäre er von Nora Gomringer ansonsten nicht so kalkuliert komponiert worden.

Recherche von Nora Gomringer soll demnächst als sogenanntes „enhanced E-Book“ erscheinen, ist aber weiterhin auf der ORF-Website kostenfrei als PDF erhältlich

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