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Buchkritik Deniz Utlus Kreuzberg-Roman „Die Ungehaltenen“ ist leider zu schematisch geraten und bildet die Realität im Kiez nicht ab
Ausgabe 15/2014

Wahrscheinlich ist so ein Satz wie „Die Literatur von Migranten und Postmigranten ist im Moment ziemlich angesagt“ politisch nicht korrekt. Dennoch hat man das Gefühl, schaut man auf die momentane Produktion der hiesigen Verlage, dass sich in den vergangenen Jahren im Literaturbetrieb ein gewisses Maß an schlechtem Gewissen angesammelt hat. Nun erscheinen nämlich jede Menge Romane mit Migrationshintergrund. Einerseits. Andererseits holt man verzögert nach, was im englischsprachigen Raum längst passiert ist. Ab den späten 1980er-Jahren wurde die britische Literatur durch die Romane von Salman Rushdie, Hanif Kureishi und anderen ordentlich aufgemisch.

Das blieb nicht ohne Folgen für die Universitäten: Unter dem Vorzeichen der Postcolonial Studies integrierte die Literaturwissenschaft den neuen Trend und revidierte damit den zuvor elitären Kanon prädominant weißer männlicher Schriftsteller. Ein überfälliger Fortschritt, ja.

Diesseits wie jenseits des Kanals, so könnte ich mir gut vorstellen, dürfte ein Autor wie Deniz Utlu in den Seminaren auf großes Interesse stoßen: Geboren 1983 in Hannover, Studium der Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Außerdem, wie der Klappentext werbewirksam ausstellt, twittert er dreisprachig zu politischen und kulturellen Themen. Ein Autorenprofil fürs 21. Jahrhundert also. Die Ungehaltenen ist sein erster Roman. Das ist ein kluger, weil ambivalenter Titel, der das Nebeneinander von sozialem wie privatem Unbehagen, das das beschriebene Migrations- und Postmigrationsmilieu ja auszeichnet, subtil erfasst. Der Rest des Romans fällt leider ab.

Debüts soll man entweder loben oder ignorieren, besagt ein ungeschriebenes Gesetz im englischen Literaturbetrieb. Aber ich möchte gern einen Mittelweg versuchen, dafür gestehe ich folgenden Hintergrund: Ich lebe seit dem Jahr 2005 in just jenem eng begrenzten Teil von Berlin-Kreuzberg, in dem Utlus Roman spielt, ich pendele aber, was Sie jetzt nicht überraschen wird, als germanistischer Arbeitsmigrant zwischen der deutschen Hauptstadt und dem englischen Birmingham.

Dort über den eigenen Kiez zu lesen, verschafft zumeist eine merkwürdige Lektüreerfahrung zwischen Heimat und Fremde. So etwa bei den beobachtungsgenauen Romanen von Ulrich Peltzer. Bei Deniz Utlu hingegen bleibt ‚Kreuzberg 36’ seltsam diffus. Mehr noch: Von einer Reflexion der gegenwärtigen Zustände, etwa was die Gewalt im Görlitzer Park betrifft, in dem unlängst der Autor und Politologe Raul Zelik brutal überfallen wurde, ist in den Ungehaltenen nichts zu finden, obwohl die Protagonisten öfters auf der Steintreppe gegenüber dem Café Edelweiß sitzen. Onkel Cemal beklagt zwar, dass seit dem Fall der Mauer das alte Kreuzberg verschwunden sei, aber so zweigleisig deutsch-türkisch, wie das Viertel in dem im Jahr 2011 angesiedelten Buch erscheint, ist Kreuzberg eben schon lange nicht mehr. Doch dazu später mehr.

Ein altes Kreuzberg

Als Roman funktioniert Die Ungehaltenen weitgehend nach Schema F: Genau zur Hälfte beginnt der zweite Teil, im den die Handlung dann im letzten Drittel in die Türkei transferiert wird. Sonderlich Aufregendes passiert nicht: Der Ich-Erzähler Elyas verschludert sein Studium, der Vater stirbt, seine Beziehung geht in die Brüche, dann verliebt sich Elyas in eine deutsch-türkische Ärztin; erst fliegt sie, dann er in die Türkei, sein Onkel kehrt zu altem Liebesglück zurück, Elyas findet ein neues. Dann ist das Buch zu Ende.

Natürlich braucht ein Roman keine spannende Story, um eine spannende Lektüre zu bieten. Wie erzählt wird, ist ungleich wichtiger. Das aber ist just das Problem bei den Ungehaltenen: Elyas bleibt an der psychologischen Oberfläche, er berichtet seine Geschichte – doch wir sehen die Welt nie wirklich mit seinen Augen oder verstehen sein Inneres. Und wenn angelegentlich etwa Gewaltfantasien gegen Kommilitonen angesichts reaktionärer Bemerkungen oder tatsächliche Sachbeschädigungen zur Abreaktion von Liebesfrust aus ihm herausbrechen, wirkt das angedichtet und künstlich.

Auch hätte das Lektorat manches Klischee oder abgenutzte Formeln aus dem Text entfernen können, während man sich von Seiten des Autors mehr Stellen wünscht, die man gerne anstreicht. So etwa jene, in der Elyas feststellt, dass Schnecken zwangsläufig unsentimental seien und keine Heimatgefühle entwickeln, weil sie ihre Häuser stets mit sich trügen. Das ist schön, subtil klingt hier nämlich das Thema des Romans an: nämlich die Unbehaustheit der ‚Ungehaltenen’. Der Limbus zwischen türkischer Herkunft und deutscher Heimat, die spannungsvolle Lage jener Menschen, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen mussten, um sich zunächst in einer multikulturellen Enklave anzusiedeln, aus der sie heute nun erneut vertrieben werden, weil die vielbeschworene ‚Kreuzberger Mischung’ dabei ist, nun in ein monokulturelles Hipsterparadies umzukippen. Doch die englischsprachigen Hipster samt den sie herumführenden anzugbewehrten Maklern kommen in dem Buch ebenso wenig vor wie etwa die afrikanischen Drogendealer rund um den Görlitzer Park.

Zwar wird Die Ungehaltenen als „Berlinroman“ beworben, er zeichnet jedoch ein veraltetes Bild von Kreuzberg. Gegenwartsliteratur, im eigentlichen Sinne, sollte anders aussehen. Was Utlus Roman aber eben am meisten vermissen lässt, ist die Arbeit mit und an der Sprache. Denn was sonst zeichnet Literatur aus, wenn nicht die sprachliche Reflexion des Erzählten. Zumal in einem Buch, das sich mit dem postmigrantischen Milieu beschäftigt, würde man erwarten, eine durch die Erzählsprache vermittelte Reflexion über die Lage einer Bevölkerungsgruppe, die ja selbst zwischen zwei Sprachen lebt, zu finden. Davon aber ist keine Spur zu finden. Utlu mag in drei Sprachen twittern, seine Kreuzberger Deutsch-Türken jeder Generation aber reden alle, platt gesagt, wie Abiturienten aus Hannover.

Was bleibt? Festzustellen vielleicht, dass abseits aller Eigenvermarktungsinteressen, die die aktuelle Debatte über die deutsche Gegenwartsliteratur bestimmen, der grundsätzliche Befund über die beklagenswerte Verfassung des gegenwärtigen Schrifttums durchaus richtig ist. Verständlich (und richtig), dass unter solchen Umständen gerade literarische Texte in den Fokus rücken, die einen nicht-traditionellen Hintergrund aufweisen. Ihnen etwa aus Gründen politischer Korrektheit grundsätzlich einen besonderen ästhetischen Bonus zuzuweisen, kann aber nicht sein. Aus der Misere retten uns nämlich weder Schreibschulen noch Minderheitenprogramm, sondern nur eines: gute Bücher. Egal, wer sie schreibt.

P.S.: Noch einmal zurück zur britischen Auslandsgermanistik: Die Forschung zu Büchern von bikulturellen Migranten boomt nicht zuletzt deshalb, weil man mit Goethe und Lessing, Thomas Mann und Günter Grass außerhalb der Elite-Unis nur schwer noch Studenten rekrutieren kann. Zudem können die German Studies damit ihre periphere Position zu einem Standortvorteil ummünzen und an die sogenannte Interkulturelle Germanistik anschließen, die sich hier mittlerweile an verschiedenen Unis eingenistet hat. Die versucht eine so gern eingeforderte gesellschaftliche Relevanz der Germanistik im Kontext der Globalisierung herzustellen. Es wird darüber zu berichten sein.

Die Ungehaltenen von Deniz Utlu, Graf Verlag, Berlin 2014, 320 S., 18 €

Uwe Schütte ist Dozent für Deutsche Kultur und Geschichte an der Aston University in Birmingham, England

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