Er glänzt durch seine Absenz. Auf der Buchpreisliste fehlt Gerhard Roth sowieso, und renommierte deutsche Literaturpreise bekam der Österreicher die letzten drei Jahrzehnte nicht wirklich. Auch beim Büchner-Preis hat man den 72 Jahre alten Autor bisher übergangen, obwohl er 2011 mit seinem titellosen Doppelzyklus ein literarhistorisch einmaliges Unterfangen nach mehr als 30 Jahren Arbeit glücklich zu Ende gebracht hat.
Wie in einer Helix sind darin die sieben formal heterogenen Bände von Die Archive des Schweigens (1980 – 1991) mit den acht Erzähltexten des Orkus-Zyklus (1995 – 2011) durch inhaltliche wie formale und strukturelle Überschneidungen beziehungsweise motivische Korrespondenzen verknüpft. Gleichsam in Form einer Osmose wechseln Protagonisten des ersten in den zweiten Zyklus über, während der Autor selbst im letzten Band des Orkus zu einer Figur unter Figuren wird, um am Ende sozusagen im Doppelzyklus verschollen zu gehen.
Man möchte das fast als Sinnbild für das Verschwinden Roths vom Radar der deutschen Literaturkritik nehmen. Früher war das noch anders: „Kein Zweifel: Gerhard Roth gehört neben Thomas Bernhard und Peter Handke zu den bedeutsamsten österreichischen Gegenwartsautoren“, urteilte Ulrich Greiner im Jahr 1976.
In seinem Heimatland zumindest gilt dieses betagte Statement noch unverändert. Roth ist dort allgegenwärtig als einer der profiliertesten kritischen Intellektuellen, dessen gesellschaftliches Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ihm viel Lob, aber auch viel politische Feindschaft eingetragen hat. 1995 etwa unternahm die Jörg-Haider-Partei den Versuch, ihn durch eine parlamentarische Anfrage öffentlich zu diskreditieren. Um ihn zudem finanziell zu schädigen, forderte die FPÖ eine Rückzahlung staatlicher Preisgelder, weil der drogensüchtige Protagonist des Romans Der See erwägt, einen populistischen Politiker zu erschießen. Später erhielt Roth wiederum Morddrohungen aus dem Umfeld des rechtsextremen Briefbombenattentäters Franz Fuchs.
Das letzte Manuskript
Rechtsradikale Gewalt spielt auch in seinem neuen Roman Grundriss eines Rätsels eine Rolle (es ist sein 22., dazu kommen jeweils mehr als zehn Filmdrehbücher und Bildbände). Im südsteirischen Grenzgebiet werden drei tschetschenische Flüchtlinge erschossen. Und jedes Mal, wenn eine der Leichen auftaucht, ist ein junger Wiener Germanist namens Vertlieb Swinden in der Nähe. Der Literaturwissenschaftler wird zwar zu Unrecht verdächtig, allerdings belügt, bestiehlt und täuscht er die Dorfbewohner permanent, denn er will mit allen Mitteln das mysteriöse letzte Manuskript des Schriftstellers Philipp Artner finden, der bei einer Gasexplosion in Wien ums Leben kam.
Artner, der unverkennbare Züge seines Erfinders Gerhard Roth trägt, führte nämlich eine geheime, zweite Existenz auf dem Land. Je mehr der Germanist darüber herausfindet, desto stärker verstrickt er sich selbst in das Geflecht aus Täuschungen und Unwahrheiten. Mehr noch: Swinden tritt in unterschiedlicher Weise an die Stelle des Toten, bis er am Ende eine so überraschende wie erschütternde Erkenntnis macht. Wie schon in Roths großem Roman Das Labyrinth (2004) wechselt die Erzählperspektive von Kapitel zu Kapitel: Neben der betrogenen Witwe Artners kommen auch seine Geliebte aus der Provinz und ihr unehelicher Sohn zu Wort, wobei der Handlungszeitraum von Mitte der 90er bis ins Jahr 2040 reicht.
Aus den unterschiedlichen Perspektiven entwickelt sich auf mehr als 500 Seiten die spannende Handlung, in deren Verlauf die Sicherheit, mit der wir für gewöhnlich über unser Leben und das unserer nahen Mitmenschen Bescheid zu wissen glauben, gründlich destabilisiert wird.
Auch in Grundriss eines Rätsels greift Roth insofern auf Muster des Kriminalromans zurück. Allerdings sollte man wohl besser von Verbrechensromanen sprechen, denn Roth versucht stets, jenen destruktiven, kriminellen Energien nachzuspüren, die im Inneren des Menschen wie im kollektiven Bewusstsein seiner Landsleute lauern.
Katastrophen der Moderne
Sein abgebrochenes Medizinstudium war insofern die beste Voraussetzung für die schriftstellerische Anatomie des österreichischen Kopfes, wie er sie insbesondere im Archive-des-Schweigens-Zyklus unternahm. Wenn Roth dabei das Fortbestehen atavistischer Verhaltensmuster wie Xenophobie diagnostiziert oder die von der katholischen Kirche seit Jahrhunderten beförderte Autoritätshörigkeit kritisiert, weist dies bewusst über den österreichischen Horizont hinaus.
Ihm geht es nicht – anders als beispielsweise bei Marlene Streeruwitz oder Robert Menasse – um schwarz-weiße Simplifizierungen oder pfiffige Formulierungen, sondern um eine Art literarische Archäologie gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, indem er bis an die anthropologischen Wurzeln der Katastrophen der Moderne zurückgeht. Entsprechend ist es auch im nie möglich, trennscharf zwischen gut und böse, schuldig und unschuldig zu unterscheiden.
Eine literarische Technik, die zunehmend wichtiger für Roth wird, ist die Deutung von bildnerischen Kunstwerken, die meist als Illustrationen im Text zu finden sind und den Erzählfiguren als Identifikationspunkte dienen. Immer wieder überschreitet Roth die Parameter konventionellen Erzählens: Da gibt es unwahrscheinlichste Zufälle und Aufzählungen von Naturschönheiten in überlangen Listen, das Romanpersonal in Grundriss eines Rätsels umfasst zum Beispiel Pfarrer, die auf dem Sterbebett Bücher essen oder Schlangenzüchter, die in Zimmern wohnen, deren Wände mit Buchstaben übersät sind, von den nächtlichen Visitationen sprechender Affen einmal ganz zu schweigen.
Die Welt der Bücher ist auch im neuen Roman für Roth unabdingbar ein Gegengewicht zu dem, was wir Realität nennen. Er führt vor, wie der Mensch stets verdrängt, dass wir nur einen kleinen Ausschnitt des Ganzen der Welt überhaupt wahrnehmen können. Eine zentrale Rolle in Grundriss eines Rätsels spielt Herman Melvilles Moby Dick als bekanntes Sinnbild für die (letztlich selbstzerstörerische) Aggression, mit der die menschliche Spezies alles ausrotten will, was zum Feind erklärt wird.
Dagegen schreibt Gerhard Roth unermüdlich an. Sein engagiertes Schreibprojekt will die Welt – in durchaus altmodischer Weise – mit aufklärerischem Impetus verbessern. Darüber darf man gerne lächeln, aber die Selbstbefindlichkeitsexerzitien der Gegenwartsliteratur bringen uns schließlich auch nicht weiter. Roths Literatur merkt man sein Getriebensein an, das Verborgene mit den Mitteln der Kunst freizulegen, und das wirkt ansteckend, weil es die eigene Aufmerksamkeit schärft. Grundriss eines Rätsels darf man so auch als Einladung verstehen, einen so bedeutenden wie sträflich unterschätzten Erzähler kennenzulernen.
Derzeit arbeitet Roth übrigens an einem Buch über Venedig. Und wer das letzte Kapitel seines aktuellen Romans gelesen hat, in dem es um den spektakulären Einsturz des Campanile am Markusplatz im Jahr 1902 geht, darf spekulieren, ob Philipp Artner nicht vielleicht eine Art Wiederauferstehung im nächsten Buch erfahren wird. Denn wie im richtigen Leben ist auch in der Literatur von Gerhard Roth nichts wirklich sicher.
Grundriss eines Rätsels Gerhard Roth S. Fischer 2014, 512 S., 24,99 €
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