Natürlich muss man in diesem Buch zuerst das letzte Kapitel lesen. Denn dort äußert sich Werner Spies zur größten Blamage der Kunsthistoriker seit Jahrzehnten, die auch die seine war. Spies, der große Max Ernst-Experte, hatte mehrere Werke des Fälschers Wolfgang Beltracchi als Max Ernst-Werke anerkannt. Und würde es wieder tun. „Wüsste ich nichts vom verbrecherischen Tun der Beltracchibande und würde die Arbeiten heute betrachten, fände ich nach wie vor keinen Hinweis, der Zweifel an der Echtheit bei mir aufkommen lassen würde“, schreibt Spies in seinem jetzt erschienenen Erinnerungsbuch Mein Glück.
Für den Mangel an Einsicht, dass Kunstwerke eben nicht allein durch die Betrachtung eines Kunsthistorikers siche
sthistorikers sicher identifizierbar sind, muss man ihn belächeln. Ebenso für die Ausrede, Beltracchi sei eben ein „genialer Fälscher“ gewesen. Für seine Ehrlichkeit kann man den 75-jährigen Werner Spies dagegen bewundern. Und es ist durchaus verständlich, dass er die Fälscher-Geschichte das „größte Unglück meines Lebens“ nennt und sie gleichzeitig mit einem Achselzucken zu einer Episode erklärt, die „das Glück meines Lebens nicht zerstören“ könne.Collage und MontageDieses Glück besteht in seiner Freundschaft mit so bekannten und bedeutenden Künstlern wie Picasso, Marcel Duchamp, André Breton, Eugène Ionesco. Und Max Ernst, dessen Freund, größter Bewunderer und wichtigster Bewahrer seines Werkes er wurde. Der Anlass für das Kennenlernen war banal: Spies sollte einen Geburtstagsartikel für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Ernst schreiben. Aus dem Kennenlernen im Auftrag wurde die „Begegnung meines Lebens“, wie Spies schreibt. Doch sie bestimmt seine Erinnerungen nicht erst ab Seite 300 dieses 600-seitigen Werks. Von Anfang an webt Spies ein Netz aus Assoziationen, Erinnerungen und Querverweisen, in denen sich ein ganz natürlicher Zusammenhang zwischen einer zerbrochenen Kaffeemühle im Haus von Spies‘ Eltern und einem Kunstwerk von Marcel Duchamp ebenso findet wie allerhand hübsche Anekdoten. Etwa die von Max Ernst, der sich in einen Teppich eingerollt aus einer Galerie tragen ließ, um nur nicht zusammen mit dem wenig geliebten Dalí auf ein Foto zu kommen. Oder die von Picasso, der die Schriftstellerin Nathalie Sarraute besuchte und ihr anbot, ihrer Tochter ein Kind zu machen, damit er – wie früher – frische Milch für den Kaffee hätte. Spies leidet mit der scheuen Gastgeberin, der Leser freut sich an der Provokation.Pure Effekthascherei liegt Werner Spies aber fern, weshalb die Zahl dieser Anekdoten überschaubar bleibt. Vielmehr geht es ihm um die großen Dinge – die deutsch-französische Freundschaft, die Vermittlung von Kunst und um die Künstler. Dafür hat er gearbeitet, gelebt, geschrieben. Dazu versucht er sich, wie die von ihm bewunderten Künstler, an sprachlicher „Collage und Montage, als präzis kontrollierte Sprunghaftigkeit“, was beim Lesen seiner Erinnerungen durchaus Vergnügen macht.Doch wer ist eigentlich Werner Spies? Auf den Fotos im Buch taucht er als junger, älterer und gealterter Mann mit einigen der größten Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder auf und verschwindet ebenso schnell wieder hinter den Geschichten über sie. Wer erwartet hat, in diesem Erinnerungsbuch viel über Werner Spies, den großen Kunstkritiker, Ausstellungsmacher, Museumsdirektor und Lehrer zu erfahren, wird meist enttäuscht. Allein Kindheit und Jugend werden ausführlicher beschrieben.Ein mäßig eitler ErzählerEine solche diskrete Erzählhaltung hat ihren Preis: Auch wenn sich die Kapiteleinteilung formal an der Biografie orientiert, werden doch zu wenige Daten und Fakten über den Autoren geliefert, um sich ein klares Bild von ihm machen zu können. Das macht das Buch kleiner als es ist – denn es tendiert oft zur Lektüre für Insider, die gut über Spies, den Kunstbetrieb und die deutsche Medienlandschaft informiert sein müssen, um alles verstehen zu können. Allzu selten scheint auch durch, dass Spies als Journalist arbeitete und die Künstler erst einmal nur aufgrund von Text-Aufträgen kennenlernte und es dann schaffte, dass aus Interviewpartnern Gesprächspartner und später Freunde wurden.Es bleibt aber, dass Spies ein wunderbarer, mäßig eitler Erzähler ist, dem man trotz allem gern in Ateliers und auf fröhliche Feste, in Restaurants und später an Totenbetten und auf Friedhöfe folgt. Denn er schafft es immer wieder, den Geist einer Zeit, das Flair eines Ateliers, die liebenswerte Schrulligkeit eines Künstlers so zu beschreiben, dass man nicht nur neidisch ist auf Spies, der das alles erlebt hat, sondern auch wirklich Neues erfährt. Und es ist ein nettes Buch. Abgesehen von Seitenhieben gegen den Pariser Kunsthändler Heinz Berggruen und klaren Worten gegen die lange vorherrschende Fokussierung auf die abstrakte Kunst im Nachkriegsdeutschland spart sich Spies die Kritik, lieber schwärmt er für Kollegen, die er wichtig findet. Denn niemals habe er sich als einer verstanden, der „unentwegt neue Namen in die Diskussion“ warf. Der französische Künstler Christian Boltanski sagte deshalb treffend über Spies, er „wolle weniger ein Entdecker als ein Vertiefer sein“.
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