Eine grundsätzliche Debatte habe er angestoßen, so wird dieser Tage die Rede des Bundespräsidenten "für einen Fortschritt nach menschlichem Maß" kommentiert. Als ob sie nicht schon längst im Gange wäre. Seit Monaten dräut und drängt es in der medial vermittelten politischen Sphäre zum Grundsätzlichen hin. So verschob die neue Gesundheitsministerin das von ihrer Vorgängerin verfolgte Vorhaben einer umfassenden Regelung der Fortpflanzungsmedizin mit der Begründung, es ginge um "grundsätzliche Fragen", die erst noch diskutiert werden müssten. Kurz darauf richtet der Kanzler einen Nationalen Ethikrat ein, vorgeblich, um bei "Grundsatzentscheidungen" beraten zu werden. Und die Forschungslobby geht in die Offensive: Am 3.Mai spricht sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft in einem Positionspapier für den Import embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken aus. Zwei Tage später fordern mehrere Ärzteverbände die Zulassung der Prä-Implantationsdiagnostik (PID) nicht nur in Ausnahmefällen, sondern als routinemäßige "Qualitätssicherung" bei künstlicher Befruchtung. Und am 14. Mai plädiert der renommierte Genforscher André Rosenthal für die Zulassung des so genannten therapeutischen Klonens.
In diesem Klima outet sich Johannes Rau nun als Kritiker des Liberalisierungskurses der Schröder-Regierung. Er plädiert für "Tabus und Begrenzungen" in den Biowissenschaften und konkretisiert das an drei Punkten: Zum einen argumentiert er ausführlich gegen die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe, zum anderen wendet er sich gegen eine Lockerung des Verbots der Embryonenforschung und gegen die Zulassung der PID.
Dass der Bundespräsident so eindeutig Stellung bezieht, ist zu begrüßen, überdeckt aber im derzeitigen Klima Widersprüche seiner Argumentation. So stellt der Bundespräsident Fragen in den Raum, die der Alltag der biomedizinischen Forschung längst beantwortet hat - zum Beispiel, ob in Zukunft nicht "der menschliche Körper selber zur Ware und zu einem Gegenstand ökonomischen Kalküls" werden könne. Einige Redeminuten später spielt dieser Gedanke dann keine Rolle mehr: Als es um die Begründung für seine ablehnende Haltung zu PID und Embryonenforschung geht, zählt nur noch die Menschenwürde des Embryos.
Nun mag nicht weiter verwundern, dass der Katholik Rau die embryonale Würde gegen PID und therapeutisches Klonen in Stellung bringt. Dieser alte biopolitische Hut wird allerdings in der Debatte um die Zulassung beider Verfahren schnell zu klein. Es ist erst wenige Tage her, da demonstrierte der frühere CDU-Generalsekretär, Pfarrer Peter Hintze, wie vielseitig verwendbar das Argument des Lebensschutzes ist: Er plädierte in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel für die PID, weil das Sortieren von Eizellen nicht so verwerflich sei wie eine Spätabtreibung. So wird Raus viel gelobte Grundsatzrede in der Tagespolitik wenig ausrichten; ihre Wirkungsmacht beschränkt sich auf die Sphäre der Sprachpolitik, und hier ist das Feld ohnehin vom Diskurs über Menschenwürde und Embryonenrechte bestimmt.
Seit einer Woche ist dieser Diskurs um eine Stimme reicher: Im Schatten der präsidialen Rede bekannte sich die Grünen-Fraktion im Bundestag zum Lebensschutz-Konzept. Zwei Tage vor der Rede des Bundespräsidenten und pünktlich zur Ende Mai stattfindenden Gentechnik-Debatte im Bundestag veröffentlichte die Fraktion ein Grundsatzpapier. Darin nimmt sie umstandslos Abschied von den ohnehin nur noch rudimentär vorhandenen Anbindungen an die feministische Kritik von Embryonenforschung und Reproduktionsmedizin. "Unvereinbar" sei die Forschung an embryonalen Stammzellen mit dem grünen "Konzept von Menschenwürde", heißt es da beispielsweise, weil dazu Embryonen verbraucht werden müssten. "Das hieße menschliches Leben zu vernichten, um es anderem menschlichen Leben nutzbar zu machen." Dass für die Stammzellforschung oder für das therapeutische Klonen Eizellen notwendig sind und Frauen Lieferantinnen eines Forschungsrohstoffes werden würden, spielt in der Argumentationsstrategie der Grünen keine Rolle mehr.
Es ist symptomatisch für den politischen Opportunismus der Fraktion, dass der ehemalige Forschungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) als einer der ersten das Papier kommentierte. Rüttgers, Initiator des deutschen Humangenomprojektes, war in seiner Amtszeit wiederholt von den Grünen attackiert worden, weil er ebenso bedingungslos wie seine Nachfolgerin Bulmahn - wenn auch mit geringeren finanziellen Mitteln - auf den Standortfaktor Biomedizin setzte. In dem neuen Positionspapier der grünen Bundestagsfraktion heißt es nun explizit, dass die Förderung der Genom- und Proteomforschung von der Fraktion "unterstützt" wird, weil diese Forschungen "viele neue Heilungschancen eröffnen" würden. Und so findet das Papier "in weiten Teilen" die Zustimmung des christdemokratischen Forschungsministers a.D. Ein folgenreicher Konsens bahnt sich da an: Während die Grünen es sich im Boot der Fortschrittsfreunde gemütlich machen, rückt die politische Ökonomie der Lebenswissenschaften weiter aus dem Blickfeld.
Uta Wagenmann ist Mitarbeiterin im Gen-ethischen Netzwerk e.V. und beschäftigt sich mit Genomforschung, Gendiagnostik und Reproduktionsmedizin.
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